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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26.10.2005
2 BvR 1618/05 -

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Aufhebung eines Haftverschonungsbeschlusses durch das OLG

Legt ein Beschuldigter gegen einen außer Vollzug gesetzten Haftbefehl (Haftverschonungsbeschluss) Beschwerde ein mit dem Ziel, den Haftbefehl zu beseitigen, darf das Rechtsmittelgericht die vom Ausgangsgericht gewährte Haftverschonung nur widerrufen, wenn sich die Umstände verändert haben. Dies entschied das Bundesverfassungsgericht.

Damit war die Verfassungsbeschwerde eines Beschwerdeführers, der sich gegen die Aufhebung eines Haftverschonungsbeschlusses durch das Oberlandesgericht wandte, erfolgreich.

Sachverhalt:

Dem Beschwerdeführer liegt gemeinschaftlicher Betrug mit Urkundenfälschung zur Last. Gegen ihn wurde deshalb ein auf den Haftgrund der Flucht gestützter Haftbefehl erlassen. Der Haftbefehl wurde später vom Landgericht unter Auflagen außer Vollzug gesetzt und der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen. Dabei ging das Landgericht davon aus, dass der Beschwerdeführer nicht flüchtig gewesen sei. Allerdings hielt es den Haftgrund der Fluchtgefahr für gegeben. In Anbetracht der zurzeit jedoch noch nicht bezifferbaren mutmaßlichen Schadenshöhe erschien der Kammer die Fluchtgefahr aber nicht derart hoch, dass ihr nicht durch mildere Maßnahmen als den Vollzug von Untersuchungshaft begegnet werden konnte. Hiergegen erhob der Beschwerdeführer weitere Beschwerde mit dem Ziel, nunmehr auch noch die Aufhebung des außer Vollzug gesetzten Haftbefehls zu erreichen.

Das Oberlandesgericht hob den Haftverschonungsbeschluss des Landgerichts auf und setzte den Haftbefehl wieder in Vollzug. Zur Begründung führte es an, dass das Verhalten des Beschwerdeführers darauf hin deute, dass er seinen tatsächlichen Aufenthalt in der Vergangenheit gezielt verschleiert habe, um sich dem weiteren Verfahren, jedenfalls aber der zu erwartenden Strafverbüßung zu entziehen.

Die gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts gerichtete Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hatte Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht ordnete die unverzügliche Haftentlassung des Beschuldigten an.

§ 116 Strafprozessordnung hat, soweit für die Entscheidung von Bedeutung, folgenden Wortlaut:

§ 116. (Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls)

(1) ¹1Der Richter setzt den Vollzug eines Haftbefehls, der lediglich wegen Fluchtgefahr gerechtfertigt ist, aus, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, dass der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werden kann. ...

(2) ...

(3) ...

(4) Der Richter ordnet in den Fällen der Absätze 1 bis 3 den Vollzug des Haftbefehls an, wenn

1. Der Beschuldigte den ihm auferlegten Pflichten oder Beschränkungen gröblich zuwiderhandelt,

2. der Beschuldigte Anstalten zur Flucht trifft, auf ordnungsgemäße Ladung ohne genügende Entschuldigung ausbleibt oder sich auf andere Weise zeigt, dass das in ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt war, oder

3. neu hervorgehende Umstände die Verhaftung erforderlich machen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Nach § 116 Abs. 4 StPO darf die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls nur dann widerrufen werden, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Haftverschonung verändert haben. Dieses Gebot gehört zu den bedeutsamsten (Verfahrens-) Garantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht.

Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so ist jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich. Eine Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls kommt danach nur dann in Betracht, wenn der Beschuldigte den ihm auferlegten Pflichten oder Beschränkungen gröblich zuwider handelt, wenn er Anstalten zur Flucht trifft, auf ordnungsgemäße Ladung ohne Entschuldigung ausbleibt, oder wenn andere Umstände ergeben, dass das in ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt war, oder wenn schließlich neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen. Eine lediglich andere Beurteilung bei im Übrigen gleich bleibenden Umständen kann dagegen den Widerruf nicht rechtfertigen.

Diese Grundsätze gelten auch im Beschwerdeverfahren für den Fall, dass nur der Beschuldigte Beschwerde einlegt, um eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit des außer Vollzug gesetzten Haftbefehls zu erreichen. In diesem Fall ist das Rechtsmittelgericht an die Beurteilung der Voraussetzungen der Außervollzugsetzung durch das Ausgangsgericht gebunden und kann seine Beurteilung, sofern keine Änderung der Umstände vorliegt, nicht an die Stelle derjenigen des sachnäheren Ausgangsgerichts setzen. Eine eigene Beurteilungskompetenz ist dem Beschwerdegericht in diesen Fällen nur dann eröffnet, wenn sich die Umstände inzwischen verändert haben und demzufolge die Sperrwirkung des § 116 Abs. 4 StPO nicht mehr greift. Im übrigen wäre auch das Recht des Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren verletzt, wenn der Adressat eines Haftverschonungsbeschlusses von einer Überprüfung der Rechtmäßigkeit des zugrunde liegenden Haftbefehls abgehalten würde, nur weil er damit rechnen müsste, dass das Beschwerdegericht die gewährte Vergünstigung aufhebt, obwohl die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 SPO nicht vorliegen.

Das Oberlandesgericht hat nicht festgestellt, dass eine Veränderung der Umstände vorliegt. Es hat sich jedoch gleichwohl berechtigt gesehen, den Haftbefehl wieder in Vollzug zu setzen. Dies ist mit den aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden verfassungsrechtlichen Vorgaben unvereinbar.

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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 03.11.2005
Quelle: Pressemitteilung Nr. 109/05 des BVerfG v. 03.11.05

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