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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 21.06.2011
1 BvR 2035/07 -

BVerfG: Regelung zum studiendauerabhängigen Teilerlass der BAföG-Rückzahlung teilweise verfassungswidrig

Studenten in den neuen Bundesländern werden durch das BAföG-Gesetz benachteiligt

Der den Teilerlass von BAföG regelnde § 18 Abs. 3 Satz 1 BAföG ist in der vorherigen und auch in der nachfolgenden Fassungen dann nicht mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, soweit es danach Studierenden wegen Rechtsvorschriften zur Mindeststudienzeit einerseits und zur Förderungshöchstdauer andererseits objektiv unmöglich ist, einen großen Teilerlass zu erhalten. Dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden.

Der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall begann im Wintersemester 1991/92 in den neuen Bundesländern sein Medizinstudium, das er im ersten Monat nach dem Ende des 12. Semesters erfolgreich abschloss. Während des Studiums erhielt er Ausbildungsförderung nach dem BAföG. Das Bundesverwaltungsamt legte im Verfahren zur Festsetzung der Darlehensrückzahlung unter Zugrundelegung der Förderungshöchstdauer von sechs Jahren und drei Monaten deren Ende auf den Monat Dezember 1997 fest und gewährte dem Beschwerdeführer lediglich einen kleinen Teilerlass, da er das Studium nur zwei Monate vor dem Ende der Förderungshöchstdauer abgeschlossen habe. Seine im Wesentlichen gegen die Versagung des großen Teilerlasses gerichteten Klagen blieben vor den Verwaltungsgerichten ohne Erfolg.

Teilerlass der BAföG bei schnellerem Studienabschluss

Die bedürftigkeitsabhängige Ausbildungsförderung nach dem BAföG wird bei Universitätsstudiengängen für eine Förderungshöchstdauer zur Hälfte als unverzinsliches Darlehen erbracht. Nach § 18 b BAföG kann das Darlehen bei erfolgreichem Studienabschluss teilweise erlassen werden. Neben einem leistungsabhängigen Teilerlass kommt ein studiendauerabhängiger Teilerlass in Betracht. In der hier maßgeblichen Fassung des § 18 b Abs. 3 BAföG vom 22. Mai 1990 werden dem Studierenden 5.000 DM des Darlehens erlassen, wenn er sein Studium vier Monate vor Ablauf der Förderungshöchstdauer erfolgreich beendet (großer Teilerlass); beträgt der Zeitraum nur zwei Monate, werden 2.000 DM erlassen (kleiner Teilerlass).

Erreichen des großen Teilerlasses für Humanmedizinstudenten kaum möglich

Das ärztliche Berufsrecht sieht seit den 1970er Jahren eine zur Erlangung der Approbation als Arzt erforderliche Mindeststudienzeit von sechs Jahren vor. Die Regelstudienzeit beträgt im Studiengang Humanmedizin sechs Jahre und drei Monate und setzt sich aus der Mindeststudienzeit und der für die Ablegung der letzten Prüfung notwendigen Zeit von maximal drei Monaten zusammen. Die zunächst in der Förderungshöchstdauerverordnung für die einzelnen Studiengänge geregelte Förderungshöchstdauer wurde seit Mitte der 1980er Jahre nach und nach der Regelstudienzeit angeglichen. Während die Förderungshöchstdauer im Studiengang Humanmedizin seit 1986 dreizehn Semester betragen hatte, wurde sie für alle Studiengänge in den neuen Bundesländern bereits seit der Wiedervereinigung zum 1. Januar 1991 nach der Regelstudienzeit bemessen. Dadurch war es den Studierenden der Humanmedizin in den neuen Ländern von vornherein unmöglich, einen großen Teilerlass zu erreichen, da sie eine Mindeststudienzeit von zwölf Semestern zu absolvieren hatten und deshalb ihr Studium nicht vier Monate vor Ende der Förderungshöchstdauer von sechs Jahren und drei Monaten abschließen konnten. Die Verkürzung der Förderungshöchstdauer galt ebenso für Studierende der Humanmedizin, die ab dem Sommersemester 1993 ihr Studium in den alten Ländern aufgenommen hatten. Wer allerdings - wie bei einem Studienbeginn im Wintersemester 1992/93 oder früher - sein viertes Fachsemester am 1. Oktober 1994 in den alten Ländern vollendet hatte, konnte den großen Teilerlass erreichen, weil für ihn nach einer Übergangsregelung noch die alte Förderungshöchstdauer von dreizehn Semestern galt.

Rechtsvorschriften zur Mindeststudienzeit und Förderungshöchstdauer mit Gleichheitssatz unvereinbar

Das Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass § 18 b Abs. 3 Satz 1 BAföG sowohl in der hier maßgeblichen Fassung als auch in den nachfolgenden Fassungen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) unvereinbar ist, soweit es danach Studierenden wegen Rechtsvorschriften zur Mindeststudienzeit einerseits und zur Förderungshöchstdauer andererseits objektiv unmöglich ist, einen großen Teilerlass zu erhalten. In diesem Umfang dürfen die Gerichte und Verwaltungsbehörden die Vorschrift nicht mehr anwenden. Der Gesetzgeber hat bis zum 31. Dezember 2011 für alle betroffenen Studierenden, deren Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren über die Gewährung eines großen Teilerlasses noch nicht bestands- oder rechtskräftig abgeschlossen sind, eine gleichheitsgerechte Neuregelung zu treffen. Des Weiteren hat der Senat die zur Versagung des großen Teilerlasses ergangenen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte aufgehoben, weil sie - wie die Entscheidung des Bundesverwaltungsamtes - den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzen, und die Sache zur erneuten Entscheidung an das erstinstanzliche Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Entscheidungsgründe

Der Beschwerdeführer wird durch § 18 b Abs. 3 Satz 1 BAföG in Verbindung mit den einschlägigen Vorschriften zur Förderungshöchstdauer einerseits und zur Mindeststudienzeit andererseits sowie durch die daraus folgende Versagung eines großen Teilerlasses in seinem Grundrecht auf Gleichbehandlung verletzt, weil es ihm als Studierendem der Humanmedizin in den neuen Ländern von vornherein objektiv unmöglich war, in den Genuss eines großen Teilerlasses zu kommen.

Ungleichbehandlung auch zwischen Studierenden in alten und neuen Bundesländern

Zum einen wird er gegenüber den Studierenden der Humanmedizin ungleich behandelt, die im Wintersemester 1992/1993 oder früher ihr Studium in den alten Ländern aufgenommen und im Sommersemester 1994 ihr viertes Fachsemester vollendet haben, weil für diese eine Förderungshöchstdauer von dreizehn Semestern galt und sie damit bei einem Abschluss des Studiums vor Ablauf des zweiten Monats nach Ende der Mindeststudienzeit einen großen Teilerlass erhalten konnten. Zum anderen liegt eine Ungleichbehandlung gegenüber Studierenden anderer Studiengänge vor, in denen entweder gar keine Mindeststudienzeit gilt oder Mindeststudienzeit und Förderungshöchstdauer so bemessen sind, dass ein Abschluss des Studiums vier Monate vor dem Ende der Förderungshöchstdauer möglich bleibt.

Diese Ungleichbehandlungen sind nicht gerechtfertigt. Zwar steht dem Gesetzgeber bei der Gewährung von Leistungen ein Spielraum zu; insbesondere zur Bewältigung der deutschen Einheit darf er auch mit Härten verbundene Regelungen treffen. Es ist jedoch kein Grund dafür ersichtlich, den Studierenden der Humanmedizin in den neuen Ländern die Begünstigung eines großen Teilerlasses von vornherein zu versagen, während sie Medizinstudenten in den alten Ländern nach der Wiedervereinigung noch übergangsweise offen stand. Der Zweck des § 18 b Abs. 3 Satz 1 BAföG, Anreize für einen möglichst raschen Studienabschluss zu setzen, besteht gegenüber Studierenden der Humanmedizin in den neuen Ländern ebenso wie in den alten Ländern.

Strukturelle Fehler der Gesetzeskonzeption ursächlich

Auch die Befugnis des Gesetzgebers, bei der Ordnung von Massenerscheinungen typisierende und pauschalierende Regelungen zu treffen, vermag die oben genannten Ungleichbehandlungen nicht zu rechtfertigen. Die unzureichende Berücksichtigung gesetzlicher Mindeststudienzeiten und ihres Verhältnisses zur Förderungshöchstdauer kann gesamte Studiengänge und damit eine große Anzahl von Studierenden von der Möglichkeit eines großen Teilerlasses ausschließen. Dieser Ausschluss ist ohne unzumutbaren Aufwand vermeidbar, indem die Regeln über Teilerlass, Förderungshöchstdauer und Mindeststudienzeit aufeinander abgestimmt werden. Er ist daher nicht aus verwaltungspraktischen oder sonstigen Gründen sachlich geboten, sondern hat seine Ursache allein in einem strukturellen Fehler der Gesetzeskonzeption.

Die Benachteiligung gegenüber Studierenden anderer Studiengänge ist nicht durch andere Sachgründe gerechtfertigt. Dass sich der Studiengang Humanmedizin durch die höchste Förderungshöchstdauer von allen universitären Studiengängen auszeichnet, ist dem Umfang des Studiums und der gesetzlich bestimmten und auch europarechtlich vorgegebenen Mindeststudienzeit geschuldet. Ein tragfähiger Sachgrund, Studierenden einen großen Teilerlass deshalb zu versagen, weil sie sich für ein umfangreiches Studium entschieden haben, existiert nicht. Vielmehr besteht aus Sicht der Geförderten bei langer Studien und Förderungsdauer sogar ein größeres Bedürfnis für einen großen Teilerlass, da die zurückzuzahlende Darlehenssumme in der Regel höher ausfällt als bei kürzeren Studiengängen.

Gleichheitsverstoß betrifft alle Studiengänge mit Mindeststudienzeit und Förderungshöchstdauer

Die Verletzung des Grundrechts auf Gleichbehandlung betrifft nicht nur Studierende der Humanmedizin in den neuen Ländern, sondern liegt auch bei Studierenden der Humanmedizin in den alten Ländern ab Sommersemester 1993 gegenüber solchen Studiengängen vor, die die Voraussetzungen des großen Teilerlasses nach Maßgabe der für sie geltenden Mindeststudienzeiten und Förderungshöchstdauer grundsätzlich erfüllen können. Ein entsprechender Gleichheitsverstoß betrifft ferner alle anderen Studiengänge, in denen Mindeststudienzeiten vorgeschrieben sind und eine Förderungshöchstdauer gilt, die um weniger als vier Monate über der Mindeststudienzeit liegt. Die vom Gesetzgeber zu treffende Neuregelung muss rückwirkend unabhängig vom Zeitpunkt des Studienabschlusses alle noch nicht bestands- oder rechtskräftig abgeschlossenen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren erfassen, die die Gewährung eines großen Teilerlasses zum Gegenstand haben und einen Studiengang betreffen, in dem wegen divergierender Rechtsvorschriften zu Mindeststudienzeiten und zur Förderungshöchstdauer die Voraussetzungen des § 18 b Abs. 3 Satz 1 BAföG von vornherein nicht erfüllbar waren.

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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 29.07.2011
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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