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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 27.04.2021
2 BvE 4/15 -

Erfolgreiches Organstreit­verfahren zu Unterrichtungs­pflichten der Bundesregierung beim dritten Hilfspaket für Griechenland

Regierung muss Bundestag über wichtige Verhandlungslinien informieren

Das Bundes­verfassungs­gericht hat auf einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag entschieden, dass die Bundesregierung den Deutschen Bundestag in seinem Unterrichtungsrecht aus Artikel 23 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt hat, indem sie es unterlassen hat, ihn vor der Sitzung der Euro-Gruppe am 11. und 12. Juli 2015 und vor dem Euro-Gipfel am 12. und 13. Juli 2015 umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt über ihre Verhandlungslinie zum Verbleib oder vorübergehenden Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone zu unterrichten.

Zur Bewältigung der Staatsschulden-Krise verhandelten die Finanzminister der Eurozone (im Folgenden: Euro-Gruppe) sowie weitere Teilnehmer auf einer Tagung vom 11. bis zum 12. Juli 2015 über ein drittes Hilfsprogramm für Griechenland und bereiteten den hierzu stattfindenden Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Eurozone (im Folgenden: Euro-Gipfel) am 12. und 13. Juli 2015 vor. Bei einer Unterrichtung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages am 30. Juni 2015 führte der Bundesfinanzminister aus, dass Griechenland nicht ohne (Reform)Programm im Euro bleiben könne, sondern im äußersten Fall vom Zahlungssystem der Europäischen Zentralbank abgeschnitten werden müsse und sich in diesem Fall die Notwendigkeit einer vorübergehenden Parallelwährung ergeben könnte. Die Bundesregierung tauschte sich zwischen dem 9. und dem 11. Juli 2015 in intensiven Beratungen mit den Regierungen der anderen Mitgliedstaaten der Eurozone aus, wobei vorrangiges Ziel eine Verhandlungslösung und ein Verbleib Griechenlands in der Eurozone blieben. Dabei stellte der Bundesfinanzminister jedoch auch die Frage in den Raum, welche Optionen im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen bestünden.

Bundesfinanzministerium erstellte vor Euro-Treffen ein Dokument mit Auszeit-Option

In Vorbereitung auf die Verhandlungen der Euro-Gruppe und des Euro-Gipfels erstellte das Bundesministerium der Finanzen am 10. Juli 2015 ein in englischer Sprache abgefasstes Dokument. Darin wurden die von Griechenland am Tag zuvor übermittelten Reformvorschläge als unzureichend zurückgewiesen und als Option für den Fall einer fehlenden Umsetzungsperspektive für Reformen zügige Verhandlungen über eine Auszeit Griechenlands aus der Eurozone angeboten. Ausweislich der Schilderung des damaligen Vorsitzenden der Euro-Gruppe wurde das Dokument vom 10. Juli 2015 am selben Abend per E-Mail vom Bundesministerium der Finanzen an ihn, weitere Spitzenpolitiker und eine kleine Gruppe von Spitzenbeamten der Eurozone verschickt. Während der Tagung der Euro-Gruppe stellte der Bundesfinanzminister die Frage, wie bei einem Scheitern der Verhandlungen mit der griechischen Regierung vorzugehen sei, erneut in den Raum. Dabei lag ihm das Dokument vom 10. Juli 2015 vor. In das von der Euro-Gruppe erstellte Abschlussdokument wurden am 12. Juli 2015 an dessen Ende in Klammern zwei Sätze zu einer möglichen Auszeit Griechenlands aus der Eurozone und zu einer Übertragung griechischer Vermögenswerte aufgenommen, die große Ähnlichkeit mit Sätzen aus dem Dokument des Bundesministeriums der Finanzen aufwiesen. Das Abschlussdokument der Euro-Gruppe wurde einschließlich der Klammern dem anschließenden Euro-Gipfel übermittelt und dort in die Beratungen miteinbezogen.

Antragstellerin rügt verspätete Unterrichtung des Deutschen Bundestages

Die Antragsgegnerin leitete dem Deutschen Bundestag das Dokument vom 10. Juli 2015 am 12. Juli 2015 gegen 16.00 Uhr im Anschluss an die Sitzung der Euro-Gruppe zu. Über die Ergebnisse des anschließenden Euro-Gipfels wurde der Deutsche Bundestag durch die Bundesregierung am 14. und 16. Juli 2015 unterrichtet. Die Antragstellerin rügt die verspätete Unterrichtung des Deutschen Bundestages über die Verhandlungslinie der Bundesregierung vor der Sitzung der Euro-Gruppe und vor dem Euro-Gipfel.

BVerfG: Bundesregierung hätte früher unterrichten müssen

Der Organantrag hatte Erfolg. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union gemäß Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten. Die „umfassende“ Unterrichtung des Deutschen Bundestages muss ihm in erster Linie eine frühzeitige und effektive Einflussnahme auf die Willensbildung der Bundesregierung eröffnen. Es ist eine umso intensivere Unterrichtung geboten, je komplexer ein Vorgang ist, je tiefer er in den Zuständigkeitsbereich der Legislative eingreift und je mehr er sich einer förmlichen Beschlussfassung oder Vereinbarung annähert. Insbesondere Vereinbarungen und Mechanismen, die erheblich in die Zuständigkeiten des Bundestages und namentlich in seine haushaltspolitische Gesamtverantwortung eingreifen, lösen vollständige und detaillierte Unterrichtungspflichten aus. Die Pflicht zur umfassenden und frühestmöglichen Unterrichtung erstreckt sich dabei auch auf Initiativen und Positionen der Bundesregierung. Auch die eventuelle Geheimhaltungsbedürftigkeit einer Information steht ihrer Weiterleitung an den Deutschen Bundestag grundsätzlich nicht entgegen. In Fällen, in denen das Wohl des Staates durch das Bekanntwerden vertraulicher Informationen gefährdet werden kann, kann die Unterrichtung vertraulich erfolgen.

Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung verlassen

Grenzen der Unterrichtungspflicht ergeben sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Die Regierung besitzt einen Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung, der einen grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich einschließt. Zu diesem Kernbereich gehört jedenfalls die Willensbildung der Regierung, sowohl hinsichtlich der Erörterungen im Kabinett als auch bei der Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen. Dieser endet, wenn und soweit die Bundesregierung Zwischenergebnisse erreicht oder Positionierungen ausgearbeitet hat und schon diese zur Grundlage ihres nach außen gerichteten Handelns macht. Die Willensbildung der Bundesregierung ist in derartigen Fällen jedenfalls abgeschlossen, wenn sie mit ihrer Initiative aus dem Bereich der regierungsinternen Abstimmung hinaustreten und mit einer eigenen, auch nur vorläufigen Position in einen Abstimmungsprozess mit Dritten eintreten will. Im Hinblick auf die Unterrichtungspflicht bestehen strikte zeitliche Vorgaben. Der Deutsche Bundestag muss die Informationen der Bundesregierung spätestens zu einem Zeitpunkt erhalten, der ihn in die Lage versetzt, sich fundiert mit dem Vorgang zu befassen und eine Stellungnahme zu erarbeiten, bevor die Bundesregierung nach außen wirksame Erklärungen abgibt. Offizielle Dokumente, Berichte und Mitteilungen müssen daher ebenso wie alle inoffiziellen Informationen an den Deutschen Bundestag weitergeleitet werden, sobald sie in den Einflussbereich der Bundesregierung gelangen.

Budgetrecht und haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages betroffen

Die Verhandlungsposition der Bundesregierung einschließlich ihrer Lösungsvorschläge unterfiel der Unterrichtungspflicht gemäß Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG, weswegen der Deutsche Bundestag einen Anspruch auf deren Mitteilung noch vor der anstehenden Sitzung der Euro-Gruppe und vor dem Euro-Gipfel hatte. Die Verhandlungen über die Gewährung weiterer Finanzhilfen im hohen zweistelligen Milliardenbereich für Griechenland durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus betreffen unmittelbar das Budgetrecht und die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages als unverfügbarer Teil des grundgesetzlichen Demokratieprinzips. Gleiches gilt für die in die Diskussion eingebrachte Option eines vorübergehenden Austritts Griechenlands aus der Eurozone, da auch dieses Szenario mit ganz erheblichen Auswirkungen auf den Integrationsprozess der Europäischen Union sowie auf den Bundeshaushalt verbunden wäre. In Anbetracht dieser herausragenden Bedeutung und der Komplexität der Angelegenheit war eine besonders intensive Beteiligung des Deutschen Bundestages geboten.

Bundesregierung muss sich Verhandlungsposition zurechnen lassen

Die Initiative und Positionierung der Antragsgegnerin im Vorfeld der Sitzung der Euro-Gruppe und des Euro-Gipfels umfasste auch den Inhalt des Schriftstücks vom 10. Juli 2015. Die Antragsgegnerin kann sich nicht darauf berufen, es habe sich insofern lediglich um interne Überlegungen des Bundesministeriums der Finanzen gehandelt. Der Bundesfinanzminister hat in der Sitzung des Haushaltsausschusses am 16. Juli 2015 betont, dass seine inhaltliche Position bei der Tagung der Euro-Gruppe innerhalb der Bundesregierung abgestimmt gewesen sei. Bereits am 9. Juli 2015 fand zudem ein Gespräch zwischen der Bundeskanzlerin, dem Vizekanzler sowie dem Bundesfinanzminister statt, in dem jedenfalls am Rande auch ein freiwilliges, temporäres Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone thematisiert wurde. Dabei ist der Bundesregierung die Verhandlungsposition eines ihrer Mitglieder zurechenbar, wenn dieses die Bundesrepublik Deutschland in einem Verhandlungsprozess auf europäischer Ebene vertritt und erkennbar als deren Repräsentant auftritt.

Verhandlungsposition war für Abstimmungsprozesses auf europäischer Ebene bestimmt

Unerheblich ist auch, in welcher Form und auf welche Art und Weise die Bundesregierung einen Vorschlag in europäische Willensbildungsprozesse einbringt. Der Inhalt des Schreibens vom 10. Juli 2015 gab die zu diesem Zeitpunkt bestehende Verhandlungsposition der Bundesregierung beziehungsweise die aus Sicht der Bundesregierung bestehenden Handlungsoptionen im Außenverhältnis zu Dritten wieder, wurde nach außen hin kommuniziert und den anderen Verhandlungsteilnehmern inhaltlich zur Kenntnis gebracht. Seine Bestimmung für einen Abstimmungsprozess mit Dritten zeigt sich nicht zuletzt darin, dass das Dokument in englischer Sprache angefertigt wurde und einzelne Sätze daraus in leicht abgewandelter Form Eingang in das offizielle Abschlussdokument der Euro-Gruppe fanden. Darüber hinaus wurde das Dokument nach der unbestrittenen Darstellung des damaligen Vorsitzenden der Euro-Gruppe am Abend des 10. Juli 2015 vom Bundesministerium der Finanzen an ihn, weitere Spitzenpolitiker und eine kleine Gruppe von Spitzenbeamten der Eurozone verschickt. Darin liegt der Beginn eines Abstimmungsprozesses auf europäischer Ebene, über dessen inhaltliche Ausrichtung der Deutsche Bundestag vorab hätte informiert werden müssen.

Unterrichtungspflicht trotz "Vorläufigkeit" der Position

Dem steht auch nicht entgegen, dass die Verhandlungsposition der Bundesregierung nach deren Vortrag vor Beginn der Sitzung der Euro-Gruppe nicht endgültig festgelegt und damit „volatil“ war. Führt die Bundesregierung im Rahmen einer überaus bedeutsamen Angelegenheit neue Optionen und Lösungsvorschläge in die Diskussion mit ihren europäischen Partnern ein, so unterliegt auch dieser nach außen gerichtete Willensentschluss der Unterrichtungspflicht nach Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG. Spätestens am 10. Juli 2015 um 14.00 Uhr stand fest, dass die Bundesregierung in der Euro-Gruppe den Inhalt des Dokuments vom 10. Juli 2015 gegenüber den europäischen Verhandlungspartnern vortragen würde. Dazu gehörte auch, das temporäre Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone als eine Handlungsoption in die Debatte einzuführen. Gegenstand der gebotenen Unterrichtung war daher die Absicht der Bundesregierung, auf europäischer Ebene eine Diskussion zu den im Dokument vom 10. Juli 2015 enthaltenen Optionen anzustoßen. Die sonstigen dem Deutschen Bundestag unterbreiteten Informationen genügten nicht zur Erfüllung der Unterrichtungspflicht.

Spätere Informationsübermittlung kann Verstoß gegen die Unterrichtungspflicht nicht mehr heilen

Die Informationen über die Verhandlungsposition der Bundesregierung waren dem Deutschen Bundestag zum frühestmöglichen Zeitpunkt und damit deutlich vor dem 12. Juli 2015 um 16.00 Uhr zuzuleiten. Eine Mitteilungspflicht besteht, sobald feststeht, dass ein Vorschlag oder eine Initiative der Bundesregierung zum Gegenstand von Verhandlungen auf europäischer Ebene gemacht und damit nach außen kommuniziert werden soll. Sobald der für die Bundesregierung handelnde Bundesfinanzminister entschieden hatte, welche Vorschläge er in die Verhandlungen der Euro-Gruppe einbringen würde, bestand die Mitteilungspflicht gegenüber dem Bundestag. Dies war hier spätestens nach Abfassung des Dokuments vom 10. Juli 2015 um 14.00 Uhr der Fall. Eine Unterrichtung durfte auch nicht unter Verweis auf die für eine Stellungnahme des Deutschen Bundestages zu kurze Zeitspanne verwehrt werden. Ob und wie der Bundestag in Eilfällen auf eine ihm kurzfristig übermittelte Information reagiert und ob er hierzu Stellung nimmt, bleibt seinem Einschätzungs- und Organisationsspielraum überlassen. Die spätere Informationsübermittlung nach Abschluss der Sitzung der Euro-Gruppe und nach Beginn des Euro-Gipfels kann den Verstoß gegen die Unterrichtungspflicht nicht mehr heilen.

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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 31.05.2021
Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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