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Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 01.07.2008
C-39/05, C-52/05 -

Europäischer Gerichtshof gestattet den Zugang zu Rechtsgutachten des Rates zu Gesetzgebungsfragen

EuGH zu den Voraussetzungen für die Einsichtnahme von Dokumenten des Rates "Justiz und Inneres"

Die Transparenz von Gesetzgebungsverfahren und die Stärkung der demokratischen Rechte der europäischen Bürger können ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung von Rechtsgutachten darstellen. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden.

Die Gemeinschaftsverordnung über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten bestimmt, dass jeder Unionsbürger und jede Person mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat ein Recht auf Zugang zu Dokumenten der Organe hat. In der Verordnung sind Ausnahmen von diesem Grundprinzip u. a. für den Fall vorgesehen, dass durch die Verbreitung eines Dokuments der Schutz von Gerichtsverfahren und der Rechtsberatung beeinträchtigt würde, es sei denn, es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung.

Schwede beantragte Zugang zu Dokumenten des Rates "Justiz und Inneres"

Am 22. Oktober 2002 beantragte Herr Turco beim Rat Zugang zu den Dokumenten, die auf der Tagesordnung einer Tagung des Rates "Justiz und Inneres" standen, darunter eine Stellungnahme des Juristischen Dienstes des Rates zu einem Vorschlag für eine Richtlinie zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten.

Rat verweigert Einsicht in Dokumente mit der Begründung, dass die Dokumente des Juristischen Dienstes besonderen Schutz verdienten

Der Rat verweigerte die Verbreitung dieses Dokuments mit der Begründung, dass die Stellungnahmen seines Juristischen Dienstes besonderen Schutz verdienten, da sie ein wichtiges Mittel darstellten, das es ihm erlaube, sich Gewissheit über die Vereinbarkeit seiner Rechtsakte mit dem Gemeinschaftsrecht zu verschaffen, und ihre Verbreitung zu einer Unsicherheit über die Rechtmäßigkeit der Rechtsakte führen könne, die in der Folge dieser Stellungnahmen beschlossen würden. Der Rat war zudem der Auffassung, dass im vorliegenden Fall kein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung bestehe. Der Grundsatz der Transparenz und die Offenheit des Entscheidungsprozesses, auf die sich Herr Turco berufen habe, seien keine maßgeblichen Kriterien, weil sie sich auf alle Dokumente des Juristischen Dienstes anwenden ließen, was es dem Rat praktisch unmöglich machen würde, den Zugang zu Stellungnahmen aufgrund der Verordnung zu verweigern.

Gericht erster Instanz wies Klage des Schweden ab

Das von Herrn Turco angerufene Gericht erster Instanz wies dessen Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung des Rates mit der Begründung ab, dass die Verbreitung von Rechtsgutachten wie dem fraglichen geeignet sei, einen Zweifel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der von diesen Stellungnahmen erfassten Rechtsakte bestehen zu lassen, und auch die Unabhängigkeit der Stellungnahmen des Juristischen Dienstes des Rates in Frage stellen könne. Ein etwaiges überwiegendes öffentliches Interesse müsse von den Grundsätzen, auf denen die Verordnung aufbaue, insbesondere vom Grundsatz der Transparenz, den Herr Turco geltend mache, verschieden sein.

Schweden und Herr Turco ersuchen den Gerichtshof, das Urteil des Gerichts aufzuheben, soweit damit der Zugang zu dem Rechtsgutachten verweigert wird.

Europäischer Gerichtshof stellt dar, in welchen Schritten zu prüfen ist, ob ein Dokument verbreitet werden darf

Der Gerichtshof stellt fest, dass die Prüfung, die der Rat vor der Verbreitung eines Dokuments vorzunehmen hat, in drei Schritten erfolgen muss. In einem ersten Schritt muss sich der Rat vergewissern, dass es sich bei dem Dokument über seine Bezeichnung hinaus tatsächlich um eine Rechtsberatung handelt. In einem zweiten Schritt muss der Rat prüfen, ob der Schutz der Rechtsberatung durch die Verbreitung von Teilen des fraglichen Dokuments beeinträchtigt würde. Hierbei legt der Gerichtshof die in der Verordnung enthaltene Ausnahme für die Rechtsberatung dahin aus, dass sie das Interesse eines Organs schützen soll, freie, objektive und vollständige Stellungnahmen anzufordern. Er führt zudem aus, dass die allgemeine und abstrakte Behauptung, die Verbreitung könne Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Gesetzgebungsakts hervorrufen, nicht für die Darlegung einer solchen Beeinträchtigung ausreicht, da gerade Transparenz in den Augen der Bürger zu größerer Legitimität und größerem Vertrauen beiträgt. Überdies wird die Unabhängigkeit des Juristischen Dienstes des Rates durch eine Verbreitung von Rechtsgutachten nicht in Frage gestellt, wenn es an einer angemessen absehbaren und nicht nur hypothetischen Beeinträchtigung fehlt. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist der Rat schließlich verpflichtet, zu überprüfen, ob nicht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung vorliegt.

Der Gerichtshof führt aus, dass die Verbreitung von Dokumenten, die die Stellungnahme des Juristischen Dienstes eines Organs zu Rechtsfragen enthalten, die bei der Diskussion über Gesetzesvorschläge aufgeworfen wurden, geeignet ist, die Transparenz zu erhöhen und das demokratische Recht der europäischen Bürger zu stärken, die Informationen zu überprüfen, auf deren Grundlage ein Rechtsakt ergangen ist.

EuGH: Grundsätzlich ist eine Verbreitung der Dokumente des Juristischen Dienstes möglich - Ausnahmen vom Grundsatz müssen gut begründet werden

Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass die Verordnung grundsätzlich eine Verpflichtung zur Verbreitung der Stellungnahmen des Juristischen Dienstes des Rates zu Gesetzgebungsverfahren aufstellt. Von diesem Grundsatz sind jedoch Stellungnahmen ausgenommen, die im Zusammenhang mit Gesetzgebungsverfahren erstellt wurden und besonders sensibel oder von großer Tragweite sind, die über den Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens hinausgeht. In einem solchen Fall müsste das betreffende Organ die Verweigerung substantiiert begründen.

EuGH erklärt die Verweigerung des Zugangs zu den Dokumenten für nichtig

Auf der Grundlage dieser Erwägungen hebt der Gerichtshof das Urteil des Gerichts auf, soweit es die Verweigerung des Zugangs zum fraglichen Rechtsgutachten betrifft. Schließlich nutzt der Gerichtshof die ihm durch seine Satzung eröffnete Möglichkeit, den Rechtsstreit selbst endgültig zu entscheiden, und erklärt die Entscheidung des Rates, Herrn Turco den Zugang zu verweigern, für nichtig.

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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 01.07.2008
Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 43/08 des EuGH vom 01.07.2008

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