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Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 18.12.2007
- C-341/05 -
EuGH: Kollektive Maßnahmen zur Durchsetzung von Mindestlöhnen können zulässig sein
Maßnahme muss sich mit dem Allgemeininteresse des Arbeitnehmerschutzes rechtfertigen lassen
Der Europäische Gerichtshof äußert sich zur Vereinbarkeit einer kollektiven Maßnahme mit dem Gemeinschaftsrecht, mit der eine gewerkschaftliche Organisation versucht, einen ausländischen Dienstleister zu zwingen, Lohnverhandlungen aufzunehmen und einem Tarifvertrag beizutreten. Eine derartige Maßnahme in Form einer Baustellenblockade stellt eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar, die sich im vorliegenden Fall nicht mit dem Allgemeininteresse des Arbeitnehmerschutzes rechtfertigen lässt.
Die Richtlinie 96/71 über die Entsendung von Arbeitnehmern sieht vor, dass die Beschäftigungsbedingungen, die den entsandten Arbeitnehmern im Aufnahmemitgliedstaat garantiert werden, durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften und/oder - in der Baubranche -durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche festgelegt werden. Das schwedische Arbeitnehmerentsendegesetz präzisiert mit Ausnahme der Mindestlohnsätze die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für die in der Richtlinie 96/71 aufgeführten Sachgebiete. Das Gesetz enthält keine Bestimmungen über das Entgelt, dessen Festlegung in Schweden traditionell den Sozialpartnern im Wege von Kollektivverhandungen überlassen bleibt. Das schwedische Recht gestattet den gewerkschaftlichen Organisationen, unter bestimmten Voraussetzungen kollektive Maßnahmen zu ergreifen, um einen Arbeitgeber zur Aufnahme von Lohnverhandlungen und zum Beitritt zu einem Tarifvertrag zu zwingen.
Im Mai 2004 entsandte Laval un Partneri Ltd, eine lettische Gesellschaft, Arbeitnehmer aus Lettland zur Durchführung von Bauarbeiten nach Schweden. Die Arbeiten wurden von ihrer Tochtergesellschaft L&P Baltic Bygg AB ausgeführt. Es handelte sich u. a. um die Renovierung und Erweiterung eines Schulgebäudes in der Stadt Vaxholm.
Im Juni 2004 nahmen Laval, Baltic Bygg und die schwedische Bauarbeitergewerkschaft Svenska Byggnadsarbetareförbundet Verhandlungen über die Festlegung der Lohnsätze der entsandten Arbeitnehmer und den Beitritt von Laval zum Bautarifvertrag auf. Zu einem Abschluss kam es nicht. Im September und im Oktober unterzeichnete Laval Tarifverträge mit der lettischen Baugewerkschaft, der 65 % der entsandten Arbeitnehmer angehörten.
Am 2. November 2004 leitete Byggnadsarbetareförbundet kollektive Maßnahmen in Form einer Blockade sämtlicher Baustellen von Laval in Schweden ein. Die schwedische Elektrikergewerkschaft schloss sich mit Sympathiemaßnahmen dem Arbeitskampf an, was dazu führte, dass sich die Elektriker gehindert sahen, Leistungen an Laval zu erbringen. Unter dem Personal von Laval befanden sich keine Mitglieder dieser Gewerkschaften. Infolge der eine gewisse Zeit währenden Unterbrechung der Arbeiten wurde Baltic Bygg für insolvent erklärt, und die entsandten Arbeitnehmer kehrten nach Lettland zurück.
Laval erhob beim Arbetsdomstol eine Klage, bei der es insbesondere um die Rechtmäßigkeit der kollektiven Maßnahmen und um Schadensersatz geht; das Gericht ersucht den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften um Antwort auf die Frage, ob das Gemeinschaftsrecht dem entgegensteht, dass gewerkschaftliche Organisationen unter den beschriebenen Umständen solche kollektiven Maßnahmen durchführen.
Zunächst stellt der Gerichtshof fest, dass die Richtlinie 96/71 es dem Aufnahmemitgliedstaat nicht erlaubt, die Erbringung einer Dienstleistung in seinem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen eingehalten werden, die über die zwingenden Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz hinausgehen. Für die in der Richtlinie 96/71 genannten Aspekte sieht diese nämlich ausdrücklich den Grad an Schutz vor, den in anderen Mitgliedstaaten ansässige Unternehmen im Aufnahmemitgliedstaat den von ihnen in dessen Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern zu garantieren haben.
Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme als Grundrecht anzuerkennen ist, das fester Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ist, deren Beachtung der Gerichtshof sicherstellt; doch kann seine Ausübung bestimmten Beschränkungen unterworfen werden. Der Grundrechtscharakter des Rechts auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme vermag jedoch eine derartige Maßnahme, die sich gegen ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiges und Arbeitnehmer im Rahmen einer länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen entsendendes Unternehmen richtet, nicht dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts zu entziehen.
Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass das Recht der gewerkschaftlichen Organisationen eines Mitgliedstaats zur Durchführung kollektiver Maßnahmen, durch die sich in anderen Mitgliedstaaten ansässige Unternehmen gezwungen sehen können, Verhandlungen von unbestimmter Dauer zu führen, um Kenntnis von den Mindestlohnsätzen zu erlangen, und einem Tarifvertrag beizutreten, dessen Klauseln über den mit der Richtlinie 96/71 sichergestellten Mindestschutz hinausgehen, geeignet ist, für diese Unternehmen die Durchführung von Bauarbeiten im schwedischen Hoheitsgebiet weniger attraktiv zu machen, ja sogar zu erschweren, und daher eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellt. Eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs lässt sich nur rechtfertigen, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist, soweit sie in einem solchen Fall geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass im Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme, die den Schutz der Arbeitnehmer des Aufnahmemitgliedstaats gegen ein etwaiges Sozialdumping zum Ziel hat, ein zwingender Grund des Allgemeininteresses liegen kann. In diesem Zusammenhang fällt eine Blockade von Baustellen, die von einer gewerkschaftlichen Organisation des Aufnahmemitgliedstaats eingeleitet wird und die darauf abzielt, den im Rahmen einer länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen entsandten Arbeitnehmern Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen auf einem bestimmten Niveau zu garantieren, unter das Ziel des Arbeitnehmerschutzes.
Angesichts der spezifischen Verpflichtungen, die mit dem Beitritt zum Bautarifvertrag verbunden sind, den die gewerkschaftlichen Organisationen den in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen durch eine kollektive Maßnahme aufzwingen wollen, lässt sich jedoch die Behinderung, die mit dieser Maßnahme einhergeht, nicht im Hinblick auf ein derartiges Ziel rechtfertigen. Denn für die im Rahmen einer länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen entsandten Arbeitnehmer ist deren Arbeitgeber infolge der über die Richtlinie 96/71 herbeigeführten Koordinierung gehalten, einen Kern zwingender Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz im Aufnahmemitgliedstaat zu beachten.
Was die Lohnverhandlungen betrifft, zu denen die gewerkschaftlichen Organisationen die in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen und vorübergehend Arbeitnehmer in das Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats entsendenden Arbeitgeber mit einer kollektive Maßnahme bewegen wollen, so unterstreicht der Gerichtshof, dass das Gemeinschaftsrecht es den Mitgliedstaaten nicht verbietet, gegenüber solchen Unternehmen die Beachtung ihrer Vorschriften auf dem Gebiet des Mindestlohns mit geeigneten Mitteln durchzusetzen.
Kollektive Maßnahmen können jedoch nicht im Hinblick auf das im Allgemeininteresse liegende Ziel des Arbeitnehmerschutzes gerechtfertigt werden, wenn die Lohnverhandlungen, zu denen diese Maßnahmen ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen bewegen sollen, sich in einen nationalen Kontext einfügen, für den kennzeichnend ist, dass Vorschriften jeder Art fehlen, die hinreichend genau und zugänglich wären, um in der Praxis die Feststellung seitens eines derartigen Unternehmens, welche Verpflichtungen es hinsichtlich des Mindestlohns beachten müsste, nicht unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren.
Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass eine nationale Regelung, die die Tarifverträge, durch die Arbeitnehmer nach Schweden entsendende Unternehmen bereits in dem Mitgliedstaat, in dem sie ansässig sind, gebunden sind, unabhängig von ihrem Inhalt nicht berücksichtigt, gegenüber diesen Unternehmen eine Diskriminierung schafft, soweit sie für sie die gleiche Behandlung wie für nationale Unternehmen vorsieht, die keinen Tarifvertrag geschlossen haben. Aus dem Vertrag ergibt sich, dass derartige diskriminierende Vorschriften nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sein können. Die Anwendung dieser Regelung auf ausländische Unternehmen, die durch Tarifverträge, auf die das schwedische Recht nicht unmittelbar anwendbar ist, gebunden sind, bezweckt zum einen, es den gewerkschaftlichen Organisationen zu ermöglichen, Maßnahmen zu ergreifen, damit alle auf dem schwedischen Arbeitsmarkt vertretenen Arbeitgeber Vergütungen zahlen und auch im Übrigen Beschäftigungsbedingungen einhalten, die den gewöhnlich in Schweden praktizierten entsprechen, und zielt zum anderen darauf ab, Voraussetzungen für einen lauteren Wettbewerb zu gleichen Bedingungen zwischen schwedischen Arbeitgebern und Unternehmen zu schaffen, die aus anderen Mitgliedstaaten kommen.
Da keine dieser Erwägungen zu den Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit zählt, lässt sich eine derartige Diskriminierung nicht rechtfertigen.
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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 18.12.2007
Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 98/07 des EuGH vom 18.12.2007
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