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Kammergericht Berlin, Urteil vom 19.05.2016
20 U 122/15 -

Unerkannter Herzinfarkt: Haftung eines Rettungssanitäters wegen Stellung eigener Diagnose und unterlassener Hinzuziehung eines Notarztes

Anwendung der Beweislastregeln zur Arzthaftung bei Tätigwerden des Rettungssanitäters im Kompetenzbereich des Arztes

Klagt ein Patient über akute Brustschmerzen, die offensichtlich keine herzfremde Ursache haben, muss der Rettungssanitäter einen Notarzt hinzuziehen. Er darf auf keinen Fall eine eigene Diagnose erstellen. Bleibt damit ein Herzinfarkt unerkannt, haftet dafür der Rettungssanitäter. Dabei gelten hinsichtlich der Ursächlichkeit zwischen Pflichtwidrigkeit und Verletzungsfolgen die Beweislastregeln zur Arzthaftung, da der Rettungssanitäter im Kompetenzbereich des Arztes tätig war. Dies geht aus einer Entscheidung des Kammergerichts Berlin hervor.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: An einem Morgen im September 2010 rief ein Mann die Berliner Feuerwehr, da er über erhebliche Atembeschwerden und Schmerzen im Brustbereich klagte. Er wurde schließlich von zwei Rettungssanitätern untersucht, die ein "Intercostalschmerz" diagnostizierten und dem Patienten rieten, zu seinem Hausarzt zu gehen. Dies tat er auch einige Stunden später. Der Hausarzt lieferte den Patienten wegen des Verdachts eines Herzinfarkts ins Krankenhaus ein, wo sich der Verdacht bestätigte. Während der Untersuchung im Krankenhaus erlitt der Patient einen Schlaganfall, was die Einsetzung mehrerer Stents nach sich zog. Der Patient machte dafür die Rettungssanitäter verantwortlich und verklagte daher das Land Berlin auf Zahlung von Schmerzensgeld.

Landgericht gibt Schmerzensgeldklage statt

Das Landgericht Berlin gab der Schmerzensgeldklage statt. Angesichts der geschilderten Symptome habe die Pflicht zur Verständigung eines Notarztes oder zum Transport in ein Krankenhaus bestanden. Denn den Rettungssanitätern habe es für die Klärung der Beschwerden an eigener Sachkunde gefehlt. Gegen diese Entscheidung legte das beklagte Land Berufung ein.

Kammergericht bejaht ebenfalls Schmerzensgeldanspruch

Das Kammergericht Berlin bestätigte die Entscheidung des Landgerichts und wies daher die Berufung des Beklagten zurück. Dem Kläger stehe ein Anspruch auf Schmerzensgeld gemäß § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG zu.

Fahrlässige Amtspflichtverletzung durch Erstellung der Diagnose und unterlassener Hinzuziehung eines Notarztes

Die Rettungssanitäter haben ihre Amtspflicht fahrlässig verletzt, so das Kammergericht. Verfüge ein Patient über akute Brustschmerzen, die offensichtlich keine herzfremde Ursache haben, dürfe ein Rettungsassistent keine Diagnose stellen. Er sei vielmehr zur Hinzuziehung eines Notarztes verpflichtet. Dem Rettungsdienst obliege es in der Notrettung erste Hilfe zu leisten bzw. den Patienten soweit zu stabilisieren, dass er transportfähig wird, um ihn dann befördern zu können. Eine ärztliche Versorgung im eigentlichen Sinne bzw. eine abschließende Diagnoseerstellung falle grundsätzlich nicht in den Aufgabenbereich des Rettungsdienstes (vgl. § 2 Abs. 2 des Berliner Rettungsdienstgesetzes).

Anwendung der Beweislastregeln zur Arzthaftung

Nach Ansicht des Kammergerichts könne sich der Kläger auf die Beweiserleichterungen des Arzthaftungsrechts bei groben Behandlungsfehlern gemäß § 650 h Abs. 5 BGB berufen, um die Ursächlichkeit zwischen Amtspflichtverletzung und Verletzungsfolgen nachweisen zu können. Zwar seien die Beweisregeln auf das Handeln von Rettungssanitätern grundsätzlich nicht anwendbar. Dies gelte aber dann nicht, wenn der Rettungsassistent in den Kompetenzbereich des Arztes tätig werde. So habe der fall hier gelegen. Die Amtspflichtverletzung komme zudem einem groben Behandlungsfehler gleich.

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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 14.07.2017
Quelle: Kammergericht Berlin, ra-online (vt/rb)

Vorinstanz:
  • Landgericht Berlin, Urteil vom 07.05.2015
    [Aktenzeichen: 86 O 218/13]
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VersR 2017, 551

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Kommentare (3)

 
 
Carsten Behrens schrieb am 19.07.2017

Im Text werden die Begriffe "Rettungssanitäter" und "Rettungsassistent" verwechselt. Ein Rettungsassistent ist eine Person mit anerkannter Berufsausbildung von i.d.R. 2 Jahren Dauer. Rettungssanitäter ist keine anerkannte Berufsausbildung im Sinne des Bundesrechtes, sondern ein, zumindest nach Bundesrecht, ungeschützter Begriff. Ein Rettungssanitäter hat lediglich einen "Kurs mit Praktikum" von i.d.R. 520 Std. (keine 4 Monate) nach unverbindlichen Richtlinien absolviert. Es macht für die Einschätzung der Gerichtsentscheidung einen Unterschied, welche Qualifikation man unterstellt. Nachbessern!

Redaktion antwortete am 20.07.2017

Sehr geehrter Herr Behrens,

danke für Ihren Hinweis. Jedoch haben wir die Begrifflichkeiten aus dem Urteil des Kammergerichts übernommen. Offenbar hat das Gericht selbst nicht trennscharf die beiden unterschiedlichen Begriffe verwendet.

Carsten Behrens antwortete am 22.07.2017

Das konnte ich nicht glauben und habe unter http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/portal/t/cc4/bs/10/page/sammlung.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&documentnumber=1&numberofresults=1&fromdoctodoc=yes&doc.id=KORE214072016&doc.part=L&doc.price=0.0#focuspoint nachgeschlagen. Sie haben aber Recht. Da hat sich das Kammergericht was geleistet… Sofern man die etwas näherliegende Vermutung Rettungsassistent annimmt, ist der Unterstellung eines groben Behandlungsfehlers und damit der Entscheidung im Ergebnis aber zuzustimmen.

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