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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10.10.2017
1 BvR 2019/16 -

"Männlich" oder "weiblich" nicht ausreichend: Gesetzgeber muss bis Ende 2018 weiteren positiven Geschlechtseintrag für Personenstandsrecht schaffen

Geltendes Personenstandsrecht verstößt gegen Diskriminierungs­verbot

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass die Regelungen des Personenstands­rechts mit den grundgesetzlichen Anforderungen insoweit nicht vereinbar sind, als § 22 Abs. 3 Personenstands­gesetz (PStG) neben dem Eintrag "weiblich" oder "männlich" keine dritte Möglichkeit bietet, ein Geschlecht positiv eintragen zu lassen. Das allgemeine Persönlichkeits­recht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) schützt auch die geschlechtliche Identität derjenigen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen. Darüber hinaus verstößt das geltende Personenstandsrecht auch gegen das Diskriminierungs­verbot (Art. 3 Abs. 3 GG), soweit die Eintragung eines anderen Geschlechts als "männlich" oder "weiblich" ausgeschlossen wird. Der Gesetzgeber hat bis zum 31. Dezember 2018 eine Neuregelung zu schaffen. Gerichte und Verwaltungsbehörden dürfen die betreffenden Normen nicht mehr anwenden, soweit sie für Personen, deren Geschlechts­entwicklung gegenüber einer weiblichen oder männlichen Geschlechts­entwicklung Varianten aufweist und die sich deswegen dauerhaft weder dem männlichen, noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen, eine Pflicht zur Angabe des Geschlechts begründen.

Die beschwerdeführende Person beantragte beim zuständigen Standesamt die Berichtigung ihres Geburtseintrags dahingehend, dass die bisherige Geschlechtsangabe "weiblich" gestrichen und die Angabe "inter/divers", hilfsweise nur "divers" eingetragen werden solle. Das Standesamt lehnte den Antrag mit Hinweis darauf ab, dass nach deutschem Personenstandsrecht im Geburtenregister ein Kind entweder dem weiblichen oder dem männlichen Geschlecht zuzuordnen ist, oder - wenn dies nicht möglich ist - das Geschlecht nicht eingetragen wird (§ 21 Abs. 1 Nr. 3, § 22 Abs. 3 PStG). Der daraufhin beim zuständigen Amtsgericht gestellte Berichtigungsantrag wurde zurückgewiesen; die hiergegen gerichtete Beschwerde blieb erfolglos. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die beschwerdeführende Person insbesondere eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) und eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG).

Zuordnung zu einem Geschlecht kommt für individuelle Identität herausragende Bedeutung zu

Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch die geschlechtliche Identität schützt, die regelmäßig ein konstituierender Aspekt der eigenen Persönlichkeit ist. Der Zuordnung zu einem Geschlecht kommt für die individuelle Identität herausragende Bedeutung zu; sie nimmt typischerweise eine Schlüsselposition sowohl im Selbstverständnis einer Person als auch dabei ein, wie die betroffene Person von anderen wahrgenommen wird. Dabei ist auch die geschlechtliche Identität jener Personen geschützt, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind.

Personenstandsrecht greift in Persönlichkeitsrecht ein

In dieses Recht wird nach geltendem Personenstandsrecht eingegriffen. Das Personenstandsrecht verlangt einen Geschlechtseintrag, ermöglicht jedoch der beschwerdeführenden Person, die sich selbst dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnet, keinen Eintrag, der ihrer Geschlechtsidentität entspräche. Auch durch die Wahl der gesetzlichen Variante "fehlende Angabe" würde nicht abgebildet, dass die beschwerdeführende Person sich nicht als geschlechtslos begreift, und nach eigenem Empfinden ein Geschlecht jenseits von männlich oder weiblich hat.

Gefährdung der Entwicklung und Wahrung der Persönlichkeit

Hierdurch ist die selbstbestimmte Entwicklung und Wahrung der Persönlichkeit spezifisch gefährdet. Der Personenstand ist keine Marginalie, sondern ist nach dem Gesetz die "Stellung einer Person innerhalb der Rechtsordnung". Der Personenstand umschreibt in zentralen Punkten die rechtlich relevante Identität einer Person. Die Verwehrung der personenstandsrechtlichen Anerkennung der geschlechtlichen Identität gefährdet darum bereits für sich genommen die selbstbestimmte Entwicklung.

Grundgesetz gebietet nicht ausschließlich binäre Regelung des Geschlechts

Der Grundrechtseingriff ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Das Grundgesetz gebietet nicht, den Personenstand hinsichtlich des Geschlechts ausschließlich binär zu regeln. Es zwingt weder dazu, das Geschlecht als Teil des Personenstandes zu normieren, noch steht es der personenstandsrechtlichen Anerkennung einer weiteren geschlechtlichen Identität jenseits des weiblichen und männlichen Geschlechts entgegen.

Verwehrung weiterer einheitlicher positiver Eintragungsmöglichkeit kann nicht mit bürokratischem und finanziellen Aufwand gerechtfertigt werden

Dass im geltenden Personenstandsrecht keine Möglichkeit besteht, ein drittes Geschlecht positiv eintragen zu lassen, lässt sich nicht mit Belangen Dritter rechtfertigen. Durch die bloße Eröffnung der Möglichkeit eines weiteren Geschlechtseintrags wird niemand gezwungen, sich diesem weiteren Geschlecht zuzuordnen. Allerdings müssen in einem Regelungssystem, das Geschlechtsangaben vorsieht, die derzeit bestehenden Möglichkeiten für Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung, sich als weiblich, männlich oder ohne Geschlechtseintrag registrieren zu lassen, erhalten bleiben. Auch bürokratischer und finanzieller Aufwand oder Ordnungsinteressen des Staates vermögen die Verwehrung einer weiteren einheitlichen positiven Eintragungsmöglichkeit nicht zu rechtfertigen. Ein gewisser Mehraufwand wäre hinzunehmen. Ein Anspruch auf personenstandsrechtlicher Eintragung beliebiger Identitätsmerkmale, die einen Bezug zum Geschlecht haben, ergibt sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht hingegen nicht. Durch die Ermöglichung des positiven Eintrags eines weiteren Geschlechts unter einer einheitlichen dritten Bezeichnung entstehen auch keine Zuordnungsprobleme, die sich nach geltendem Recht nicht ohnehin schon stellen. Denn im Falle der Ermöglichung eines weiteren positiven Geschlechtseintrags sind die gleichen Fragen zu klären, die sich bei der nach derzeitiger Rechtslage möglichen Nichteintragung des Geschlechts stellen.

Geschlecht darf nicht als Anknüpfungspunkt für rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden

Darüber hinaus verstößt § 21 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit § 22 Abs. 3 PStG gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Danach darf das Geschlecht grundsätzlich nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden. Dabei schützt Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auch Menschen vor Diskriminierungen, die sich nicht dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen. Denn Zweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist es, Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen. § 21 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit § 22 Abs. 3 PStG benachteiligt aber Menschen, die nicht männlichen oder weiblichen Geschlechts sind, wegen ihres Geschlechts, weil diese im Gegensatz zu Männern und Frauen nicht ihrem Geschlecht gemäß registriert werden können.

Gesetzgeber stehen mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfassungsverstöße zur Verfügung

Die Verfassungsverstöße führen zur Feststellung der Unvereinbarkeit von § 21 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit § 22 Abs. 3 PStG mit dem Grundgesetz, weil dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die Verfassungsverstöße zu beseitigen. So könnte der Gesetzgeber auf einen personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag generell verzichten. Er kann aber stattdessen auch für die betroffenen Personen die Möglichkeit schaffen, eine weitere positive Bezeichnung eines Geschlechts zu wählen, das nicht männlich oder weiblich ist. Dabei ist der Gesetzgeber nicht auf die Wahl einer der von der antragstellenden Person im fachgerichtlichen Verfahren verfolgten Bezeichnungen beschränkt.

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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 08.11.2017
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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Kommentare (2)

 
 
Horst Brand schrieb am 13.11.2017

1. Über dem Grundgesetz, welches von Menschen formuliert wurde, steht das Gesetz Gottes. In der Bibel steht eindeutig: "Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild ... als Mann und Frau schuf er sie." Gott, der Schöpfer des Menschen, kannte kein "Drittes Geschlecht". Ich denke, wenn bei einem Menschen seit der Geburt etwas mit den Chromosomen nicht stimmt, so ist dies eine Krankheit, aber nicht ein weiteres Geschlecht.

2. Mit diesem Urteil wird, entgegen dem, was das Verfassungsgericht beabsichtigt hat, ein Mensch mit abweichenden Chromosomen diskriminiert, wenn er nicht einem der beiden bisherigen Geschlechter offiziell zugeteilt wird.

In Zukunft muss es dann ja in offiziellen Behördenschreiben z. B. heißen: "Sehr geehrte/geehrter Inter Mustermensch." Oder "Sehr geehrte(r) Diverser Mustermensch". Oder es heißt bei einem Vortrag: "Nun spricht der intersexuelle Mensch Schmitz." Meint das Gericht wirklich, dies würde sinnvoll sein? Dann zweifele ich am Sachverstand der Richter.

Dieses Problem hat das Verfassungsgericht in seinem Urteil nicht ausreichend gewürdigt. Auch ein Verfassungsgericht kann sich irren!

3. Sobald die neue Bezeichnung für das "Dritte Geschlecht" dann amtlich wird, müssen wir dann in Briefen standardmäßig wohl z. B. "Sehr geehrte Damen, Inter und Herren" schreiben. Die DIN 5008 muss dann geändert werden.

Jens-Uwe Zimmer schrieb am 08.11.2017

Interessantes und grundsätzlich gutes Urteil.

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