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Bundesgerichtshof, Urteil vom 12.07.2005
- 1 StR 65/05 -
BGH hebt Urteil im Fall eines unterernährten 15-jährigen Mädchens auf
Das Landgericht Ellwangen hat die Angeklagten – die Eltern der Geschädigten - wegen schwerer Körperverletzung nach § 226 Abs. 1 StGB jeweils zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und die Vollstreckung der Strafen zur Bewährung ausgesetzt. Gegen das Urteil hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Die Staatsanwaltschaft, die Freiheitsstrafen von jeweils sechs Jahren beantragt hatte, erstrebt eine Verurteilung der Angeklagten auch wegen Mißhandlung von Schutzbefohlenen und wegen „wissentlich“ begangener schwerer Körperverletzung (§ 226 Abs. 2 StGB).
Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
Opfer ist die jüngste der drei Töchter der Angeklagten. Sie wurde am 18. November 2003 in lebensbedrohlich unterernährtem Zustand ins Krankenhaus eingewiesen, nachdem sie mehrere Wochen lang kaum etwas gegessen und mindestens seit dem 14. November 2003 nichts mehr getrunken hatte. Das damals 15jährige Mädchen hatte bei einer Körpergröße von 156 cm noch ein Gewicht von 21,2 kg und bestand lediglich aus „Haut und Knochen“. Die Patientin mußte nach Multi-Organversagen beatmet und in ein künstliches Koma versetzt werden. Als sie erwachte, bestand eine Gehirn- und Nervenschädigung mit schwerer Sehstörung, Einschränkung des Sprechvermögens und Lähmungen der oberen und unteren Extremitäten. Zur Zeit der Hauptverhandlung am 8. Oktober 2004 mußte sie noch immer im Rollstuhl sitzen. Ob die Bewegungsfähigkeit ihrer Beine wiederhergestellt werden kann, konnte das Landgericht nicht abschließend beurteilen.
Vorausgegangen waren jahrelange heftige Auseinandersetzungen zwischen den Eltern und dem Jugendamt, die 1997 damit begonnen hatten, daß die drei Töchter nicht mehr die Schule besuchten. Die Mädchen litten unter Mangel- und Fehlernährung, wurden im Jahre 2000 in einer geschlossenen jugendpsychiatrischen Einrichtung untergebracht und mußten schließlich über eine Magensonde zwangsernährt werden. Anläßlich eines Weihnachtsbesuchs im Jahr 2000 nahmen die Angeklagten ihre Kinder mit und brachten sie nicht mehr zurück. Erst nach einer groß angelegten Suchaktion wurden die Kinder am 12. Januar 2001 aufgefunden. Im Laufe des Jahres 2001 wurde den Eltern das Sorgerecht - mit Ausnahme regelmäßiger Untersuchungen des Körpergewichts - zurückübertragen. Die Durchführung solcher Untersuchungen vereitelten die Angeklagten immer wieder. Gegen die daraufhin erfolgte Anordnung der zwangsweisen Vorführung der späteren Geschädigten zum Zwecke ihrer ärztlichen Untersuchung durch das Amtsgericht legten sie beim OLG Stuttgart Beschwerde ein. Sie erwirkten noch wenige Wochen vor der Einweisung der Tochter am 21. Oktober 2003 im Wege der einstweiligen Anordnung eine Aussetzung der Vollziehung. Erst auf Weisung eines von ihnen hinzugezogenen Heilpraktikers am 18. November 2003 verständigten sie den Hausarzt, der die sofortige Einlieferung in ein Krankenhaus veranlaßte.
Die Verurteilung durch das Landgericht erfolgte, weil die Eltern nicht rechtzeitig ärztliche Hilfe für ihre Tochter herbeiriefen, obwohl sie erkannten, daß sich ihr Gesundheitszustand zusehends verschlechterte. Darin sieht das Landgericht eine vorsätzliche Körperverletzung durch Unterlassen. Hinsichtlich der schweren Folge der Lähmung hat es lediglich Fahrlässigkeit angenommen. Das Landgericht ging insoweit davon aus, daß die Angeklagten darauf hofften, den immer schlechter werdenden Gesundheitszustand ihrer Tochter selbst beheben zu können, und daß die eingetretenen schweren Folgen ausbleiben würden.
Der Bundesgerichtshof hat das Urteil auf die Revision der Staatsanwaltschaft aufgehoben und an das Landgericht Stuttgart zurückverwiesen. Der Bundesgerichtshof hat beanstandet, daß die Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite rechtlicher Nachprüfung nicht stand hält. Das Landgericht hat für die Feststellung der lediglich fahrlässigen Verursachung der schweren Folgen keinerlei Anknüpfungstatsachen dargelegt. Die Feststellungen legen vielmehr nahe, daß die Angeklagten die Folgen wissentlich und nicht nur durch Unterlassen, sondern durch positives Tun herbeigeführt haben. In diesem Fall wäre der Qualifikationstatbestand des § 226 Abs. 2 StGB gegeben, für den das Gesetz eine Mindeststrafe von drei Jahren vorsieht. Das Landgericht hätte die Vorgeschichte, insbesondere die Abmagerung der Töchter mit den eingetretenen Schädigungen im Jahr 2000, berücksichtigen müssen. Falls die Angeklagten die Folgen vorausgesehen haben sollten, ist es ohne Bedeutung, daß sie darauf hofften, daß sich der Gesundheitszustand ihrer jüngsten Tochter wieder von selbst besserte.
Das Landgericht Stuttgart wird sich nach erneuter Überprüfung der subjektiven Tatseite auch mit dem Tatbestand der Mißhandlung von Schutzbefohlenen gemäß § 225 StGB zu befassen haben.
Vorinstanz: LG Ellwangen 2 KLs 15 Js 21 645/03
Hinweis auf den Geseztestext:
StGB § 225 Mißhandlung von Schutzbefohlenen
(1) Wer eine Person unter achtzehn Jahren oder eine wegen Gebrechlichkeit oder Krankheit wehrlose Person, die
1. seiner Fürsorge oder Obhut untersteht,
2. seinem Hausstand angehört,
3. von dem Fürsorgepflichtigen seiner Gewalt überlassen worden oder
4. ihm im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist,
quält oder roh mißhandelt, oder wer durch böswillige Vernachlässigung seiner Pflicht, für sie zu sorgen, sie an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.
(2) Der Versuch ist strafbar.
(3) Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn der Täter die schutzbefohlene Person durch die Tat in die Gefahr
1. des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung oder
2. einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung
bringt.
(4) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 ist auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen des Absatzes 3 auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.
StGB § 226 Schwere Körperverletzung
(1) Hat die Körperverletzung zur Folge, daß die verletzte Person
1. das Sehvermögen auf einem Auge oder beiden Augen, das Gehör, das Sprechvermögen oder die Fortpflanzungsfähigkeit verliert,
2. ein wichtiges Glied des Körpers verliert oder dauernd nicht mehr gebrauchen kann oder
3. in erheblicher Weise dauernd entstellt wird oder in Siechtum, Lähmung oder geistige Krankheit oder Behinderung verfällt,
so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.
(2) Verursacht der Täter eine der in Absatz 1 bezeichneten Folgen absichtlich oder wissentlich, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.
(3) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen des Absatzes 2 auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.
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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 13.07.2005
Quelle: Pressemitteilung Nr. 104/2005 des BGH vom 12.07.2005
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Dokument-Nr. 692
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