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Bundessozialgericht, Urteil vom 11.08.2015
- B 9 BL 1/14 R -
Schwerst hirngeschädigte Kinder werden nicht länger vom Blindengeld ausgeschlossen
Kriterium der spezifischen Sehstörung als Voraussetzung für Anspruch auf Blindengeld nicht praktikabel
Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass auch schwerst Hirngeschädigte, die nicht sehen können, Anspruch auf Blindengeld haben. Anders als bisher entschieden, ist hierfür nicht mehr erforderlich, dass ihre Beeinträchtigung des Sehvermögens noch deutlich stärker ausgeprägt ist als die Beeinträchtigung sonstiger Sinneswahrnehmungen wie zum Beispiel Hören oder Tasten (sogenannte spezifische Störung des Sehvermögens).
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der heute 10-jährige Kläger erlitt bei seiner Geburt (2005) wegen einer Minderversorgung mit Sauer-stoff schwerste Hirnschäden, die unter anderem zu einer schweren mentalen Retardierung mit Intelligenzminderung geführt haben. Der Entwicklungsstand des Klägers entspricht nur dem eines ein- bis viermonatigen Säuglings. Seine kognitive Wahrnehmungsfähigkeit ist im Bereich aller Sinnesmodalitäten stark eingeschränkt. Unter anderem verfügt der Kläger lediglich über basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blindheitsschwelle liegen. Der Kläger kann - mit anderen Worten - nicht sehen.
Freistaat Bayern lehnt Antrag auf Blindengeld ab
Die Mutter des Klägers beantragte 2006 für ihren Sohn
BSG gibt bisherige Rechtsprechung auf und bejaht Anspruch auf Blindengeld
Das Bundessozialgericht, der für den Nachweis einer schweren Störung des Sehvermögens bisher verlangt hatte, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten, hat seine Rechtsprechung aufgegeben und dem Kläger
Einschränkung unter dem Aspekt der Gleichbehandlung behinderter Menschen nicht zu rechtfertigen
Vor allem aber sieht das Bundessozialgericht unter dem Aspekt der Gleichbehandlung behinderter Menschen vor dem Gesetz (Artikel 3 Absatz 1 und Absatz 3 des Grundgesetzes) materiell-rechtlich keine Rechtfertigung mehr für dieses zusätzliche Erfordernis. Das Gericht kann keinen hinreichenden sachlichen Grund dafür erkennen, dass zwar derjenige
Betroffene sind sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht blind
Das in den Materialien des Bayerischen Landesgesetzgebers zum Ausdruck kommende Anliegen, dass Störungen aus dem seelisch/geistigen Bereich nicht zu einem Blindengeldanspruch führen sollen, kann die Ungleichbehandlung schwer cerebral geschädigter Behinderter nicht begründen. Auch in den Fällen, in denen neben dem fehlenden Sehvermögen weitere oder alle Sinnesorgane schwer geschädigt sind, ändert dies nichts daran, dass der Betroffene sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht blind ist. Insbesondere stellt die Erwägung, dass derjenige, der wegen schwerster cerebraler Schäden zu keiner oder so gut wie keinen Sinneswahrnehmungen fähig ist, des Blindengeldes nicht bedürfe, weil behinderungsbedingte Mehraufwendungen ohnehin nicht ausgeglichen werden könnten, keinen solchen sachlichen Grund dar. Denn das
Hinweis auf die Rechtslage
Bayerisches Blindengeldgesetz (BayBlindG)
Auszug aus Artikel 1: Anspruch
(1) Blinde und taubblinde Menschen erhalten auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Bayern haben [...] zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen ein monatliches
(2) Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt.
Als blind gelten auch Personen,
1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt,
2. bei denen durch Nummer 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nummer 1 gleichzuachten sind.
(3) [...]
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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 12.08.2015
Quelle: Bundessozialgericht/ra-online
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Dokument-Nr. 21442
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