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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11.11.2021
- 1 BvR 11/20 -
Popsänger Xavier Naidoo durfte Antisemit genannt werden - Scharfe Kritik im öffentlichen Meinungskampf hinzunehmen
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen fachgerichtliche Verurteilung zur Unterlassung der Bezeichnung eines Sängers als AntisemitenScharfe Kritik im öffentlichen Meinungskampf hinzunehmen
Das BVerfG hat Entscheidungen von Fachgerichten, denen eine zivilrechtliche Verurteilung der Beschwerdeführerin zur Unterlassung einer Äußerung zugrunde lag, aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an die Fachgerichte zurückverwiesen.
Die Beschwerdeführerin hielt als Fachreferentin im Sommer 2017 einen Vortrag zum Thema „Reichsbürger – Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifik“. Nach dem Vortrag äußerte die Beschwerdeführerin auf eine Nachfrage, wie sie den Kläger des Ausgangsverfahrens einstufe: „Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaub ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar. Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist ein bekannter deutscher Sänger. Im Jahr 2009 verfasste er unter anderem ein Lied, in dessen vierter Strophe es heißt: „Wie die Jungs von der Keinherzbank, die mit unserer Kohle zocken / Ihr wart sehr, sehr böse, steht bepisst in euren Socken / Baron Totschild gibt den Ton an und er scheißt auf euch Gockel / Der Schmock ist'n Fuchs und ihr seid nur Trottel“. Weiter heißt es in einem Liedtext aus dem Jahr 2017 auszugsweise: „Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein / Seht ihr nicht, ihr seid nur Steigbügelhalter / Merkt ihr nicht, ihr steht bald ganz allein / Für eure Puppenspieler seid ihr nur Sachverwalter“. Im Jahr 2014 hielt er eine Rede bei einer Versammlung sogenannter Reichsbürger vor dem Reichstag. Im Interview mit einer Zeitschrift im Jahr 2015 äußerte er sich dazu, ob es berechtigt sei, Deutschland für besetzt zu halten. Die Liedtexte, Äußerungen sowie die daraus hervorgehende politische Einstellung des Klägers des Ausgangsverfahrens waren unter anderem Gegenstand eines Berichts des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestages sowie mehrerer Artikel in Zeitschriften und Zeitungen.
Vorinstanzen gaben Klage statt
Das Landgericht untersagte der Beschwerdeführerin, wörtlich oder sinngemäß die streitgegenständliche Behauptung aufzustellen oder zu verbreiten. Die dagegen eingelegte Berufung zum Oberlandesgericht blieb erfolglos. Die beanstandete Äußerung sei zwar eine Meinungsäußerung, obwohl sie einen Tatsachenkern enthalte. Eine Gesamtabwägung ergebe aber, dass der Eingriff in die Ehre und das
Entscheidungen der Vorinstanzen verletzen Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit
Die
Berufungsgericht verkennt die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit
Die Fachgerichte sind bei ihrer Abwägung zudem verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft davon ausgegangen, es falle entscheidungserheblich zu ihrer Last, dass der tatsächliche Gehalt ihrer Äußerung unrichtig sei und sie die Richtigkeit ihrer Äußerung nicht habe belegen können. Der in der Äußerung enthaltene Satz „Aber das ist strukturell nachweisbar.“ ist keine Tatsachenbehauptung, auf der die Bewertung des Klägers des Ausgangsverfahrens als Antisemit aufbaut. Auf eine fehlende Beweisbarkeit eines strukturellen Nachweises kommt es damit nicht an. Verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft ist weiter die Annahme des Berufungsgerichts, im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen sei der Vorhalt des Antisemitismus bei einem Sänger, der von der Interaktion mit dem Publikum abhängig sei und im besonderen Maße im Licht der Öffentlichkeit stehe, besonders schwerwiegend. Das Berufungsgericht verkennt im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der
Scharfe Reaktionen im öffentlichen Meinungskampf hinzunehmen
Zudem muss, wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert. Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat sich mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben. Er beansprucht für sich entsprechend öffentliche Aufmerksamkeit. Schon deshalb liegt die Annahme, die Aussage der Beschwerdeführerin habe eine Prangerwirkung, völlig fern. Ihm mit Hinweis auf sein Bestreben nach öffentlicher Aufmerksamkeit und eine Abhängigkeit von der Zustimmung eines Teils des Publikums den vom Berufungsgericht beschriebenen besonderen Schutz zuteilwerden zu lassen, hieße
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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 12.01.2022
Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)
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Dokument-Nr. 31264
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