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Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 19.03.2013
- 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 -
BVerfG zu Deals im Strafprozess: Gesetzliche Regelungen zur Verständigung im Strafprozess noch verfassungsgemäß
Informelle Absprachen sind unzulässig
Die gesetzlichen Regelungen zur Verständigung im Strafprozess sind trotz eines erheblichen Vollzugsdefizits derzeit noch nicht verfassungswidrig. Der Gesetzgeber muss jedoch die Schutzmechanismen, die der Einhaltung der verfassungsrechtlichen Anforderungen dienen, fortwährend auf ihre Wirksamkeit überprüfen und gegebenenfalls nachbessern. Unzulässig sind sogenannte informelle Absprachen, die außerhalb der gesetzlichen Regelungen erfolgen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht die von den Beschwerdeführern angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen wegen Verfassungsverstößen im jeweiligen Verfahren aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
Dem zugrunde liegenden Fall liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Beschwerdeführer wenden sich gegen ihre strafgerichtliche Verurteilung im Anschluss an eine Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten. In den Verfahren 2 BvR 2628/10 und 2 BvR 2883/10 richten sich die Verfassungsbeschwerden zudem gegen die Vorschrift des § 257 c Strafprozessordnung (StPO), die durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im
Staat muss funktionstüchtige Strafrechtspflege gewährleisten
Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz, der Verfassungsrang hat. Dieser ist in der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG) sowie im Rechtsstaatsprinzip verankert (Art. 20 Abs. 3 GG). Der Staat ist von Verfassungs wegen gehalten, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten. Zentrales Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen lässt.
Ausgestaltung der Verfahrensrechte sind dem Gesetzgeber aufgegeben
Das Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet dem Beschuldigten, prozessuale Rechte wahrzunehmen und Übergriffe - insbesondere staatlicher Stellen - angemessen abwehren zu können. Die Ausgestaltung dieser Verfahrensrechte ist in erster Linie dem Gesetzgeber aufgegeben. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde. Im Rahmen dieser Gesamtschau sind auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege einschließlich des Beschleunigungsgrundsatzes in den Blick zu nehmen.
Mitwirkung im Strafverfahren ist Beschuldigtem selbst überlassen
Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit und die Unschuldsvermutung sind im Rechtsstaatsprinzip verankert und haben Verfassungsrang. Insbesondere muss der Beschuldigte frei von Zwang eigenverantwortlich entscheiden können, ob und gegebenenfalls inwieweit er im
Gesetzgeber hat Verständigungsgesetz für notwendig erachtet
Ausgehend davon tragen Verständigungen zwar das Risiko in sich, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht in vollem Umfang beachtet werden. Gleichwohl ist es dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht schlechthin verwehrt, sie zur Verfahrensvereinfachung zuzulassen. Um den verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht zu werden, hat es der Gesetzgeber für notwendig erachtet, klare gesetzliche Vorgaben für das in der Praxis bedeutsame, aber stets umstritten gebliebene Institut der Verständigung zu schaffen. Mit dem
Verständigungsbasiertes Geständnis zwingend auf Richtigkeit zu überprüfen
Das
Verständigungsgesetz beschränkt Verständigung auf Gegenstand der Hauptverhandlung
Das
Mit Verständigung verbundene Vorgänge müssen in Hauptverhandlung einbezogen werden
Transparenz und Dokumentation von Verständigungen stellen einen Schwerpunkt des Regelungskonzepts dar. Dies soll eine effektive Kontrolle durch Öffentlichkeit, Staatsanwaltschaft und Rechtsmittelgericht gewährleisten. Insbesondere müssen die mit einer Verständigung verbundenen Vorgänge umfassend in die - regelmäßig öffentliche - Hauptverhandlung einbezogen werden. Dies bekräftigt zugleich, dass die richterliche Überzeugung sich auch nach einer Verständigung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung ergeben muss.
Rechtswidrige Verständigung bei Verstoß gegen Transparenz- und Dokumentationspflichten
Ein Verstoß gegen die Transparenz- und Dokumentationspflichten führt grundsätzlich zur Rechtswidrigkeit einer gleichwohl getroffenen Verständigung. Hält sich das Gericht an eine solche gesetzeswidrige Verständigung, wird ein Beruhen des Urteils auf diesem Gesetzesverstoß regelmäßig nicht auszuschließen sein.
Staatsanwaltschaft muss rechtswidrige Verständigungen versagen
Eine herausgehobene Bedeutung kommt der Kontrolle durch die Staatsanwaltschaft zu. Sie ist nicht nur gehalten, ihre Zustimmung zu einer gesetzeswidrigen Verständigung zu versagen, sondern hat auch Rechtsmittel gegen Urteile einzulegen, die auf einer solchen Verständigung beruhen. Weisungsgebundenheit und Berichtspflichten ermöglichen es zudem, diese Kontrollfunktion der Staatsanwaltschaft nach einheitlichen Standards auszuüben.
Durch Belehrung soll Angeklagter Entscheidung über Mitwirkung treffen
Schließlich sieht das
Einhaltung verfassungsrechtlicher Vorgaben durch Verständigungsgesetz gesichert
Das
Bei lückenhafter oder unzureichender Schutzmechanismen Regelungskonzept verfassungswidrig
Verfassungswidrig wäre das gesetzliche Regelungskonzept nur, wenn die vorgesehenen Schutzmechanismen in einer Weise lückenhaft oder sonst unzureichend wären, die eine gegen das Grundgesetz verstoßende „informelle“ Absprachepraxis fördert, das Vollzugsdefizit also durch die Struktur der Norm determiniert wäre.
Fehlende Praxistauglichkeit der Vorschriften
Weder das Ergebnis der empirischen Erhebung noch die in den Verfassungsbeschwerdeverfahren abgegebenen Stellungnahmen zwingen zu der Annahme, dass es strukturelle Mängel des gesetzlichen Regelungskonzepts sind, die zu dem bisherigen Vollzugsdefizit geführt haben. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Als Hauptgrund wird in der empirischen Untersuchung eine „fehlende Praxistauglichkeit“ der Vorschriften genannt. Dies spricht für ein bisher nur unzureichend ausgeprägtes Bewusstsein, dass es Verständigungen ohne die Einhaltung der Anforderungen des Verständigungsgesetzes nicht geben darf.
Gesetzgeber muss Entwicklung weiter im Auge behalten
Der Gesetzgeber muss die weitere Entwicklung sorgfältig im Auge behalten. Sollte sich die gerichtliche Praxis weiterhin in erheblichem Umfang über die gesetzlichen Regelungen hinwegsetzen und das
Entscheidungen mit Vorgaben des Grundgesetzes nicht vereinbar
Die mit den Verfassungsbeschwerden angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen sind mit den Vorgaben des Grundgesetzes für eine Verständigung im
Verfahren 2 BvR 2628/10 und 2 BvR 2883/10: Verletzung des Rechts auf faires, rechtsstaatliches Verfahren und Verstoß gegen Selbstbelastungsfreiheit
Die von den Beschwerdeführern der Verfahren 2 BvR 2628/10 und 2 BvR 2883/10 angegriffenen Entscheidungen verletzen sie in ihrem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren und verstoßen gegen die Selbstbelastungsfreiheit. Eine Verständigung ist regelmäßig nur dann mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens zu vereinbaren, wenn der Angeklagte vor ihrem Zustandekommen über deren nur eingeschränkte Bindungswirkung für das Gericht belehrt worden ist. Fließt das unter Verstoß gegen die
Verfahren 2 BvR 2155/11: Verstoß gegen verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatz wegen Verurteilung aufgrund ungeprüften Formalgeständnisses
Die im Verfahren 2 BvR 2155/11 angegriffene landgerichtliche Entscheidung verstößt schon deshalb gegen den verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatz, weil das Landgericht den Beschwerdeführer im Wesentlichen auf Grundlage eines ungeprüften Formalgeständnisses verurteilt hat. Darüber hinaus beruht das Urteil auf einer Verständigung, die unzulässig über den Schuldspruch disponiert hat. In diesem Fall ist auch die Grenze zu einer verfassungswidrigen Beeinträchtigung der Selbstbelastungsfreiheit deutlich überschritten. Das Landgericht hat eine - schon für sich gesehen übermäßige - Differenz zwischen den beiden Strafgrenzen noch zusätzlich mit der Zusage einer Strafaussetzung zur Bewährung verbunden, die überhaupt nur aufgrund der Strafrahmenverschiebung zu einem minder schweren Fall möglich war.
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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 19.03.2013
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ ra-online
Jahrgang: 2013, Seite: 381 AnwBl 2013, 381 | Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS)
Jahrgang: 2013, Seite: 659 JuS 2013, 659 | Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW)
Jahrgang: 2013, Seite: 1058 NJW 2013, 1058
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Dokument-Nr. 15457
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