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Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 21.03.2013
- C-254/11 -
Beschränkung der Aufenthaltshöchstdauer im Schengen-Raum auf drei Monate je Halbjahr gilt nicht im kleinen Grenzverkehr
Allgemeine Regeln des Schengen-Besitzstands gelten nicht für so genannten kleinen Grenzverkehr
Die Beschränkung der Höchstdauer des Aufenthalts eines nicht visumpflichtigen Ausländers im Schengen-Raum auf drei Monate je Halbjahr gilt nicht im kleinen Grenzverkehr. Bei Ausländern, die über eine Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr verfügen, ist die in bilateralen Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten und den an sie angrenzenden Drittstaaten festgelegte Höchstaufenthaltsdauer unabhängig von ihren früheren Aufenthalten zu berechnen, wenn diese durch eine Rückkehr in ihren Wohnsitzstaat unterbrochen worden sind. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.
Nach dem Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen* können sich
Grenzbewohner können Grenzübertrittsgenehmigung für Grenzverkehr zu Nichtmitgliedsstaaten der Union erhalten
Eine spezielle Verordnung** gilt für
Höchstdauer des Aufenthalts von ukrainischen Staatsangehörigen in Ungarn beträgt drei Monate
Ungarn und die Ukraine haben ein Abkommen zur Anwendung der Verordnung über den kleinen Grenzverkehr auf ihre gemeinsame Grenze geschlossen, das u.a. die Höchstdauer des Aufenthalts von ukrainischen Staatsangehörigen festlegt, die die Regelung über den kleinen Grenzverkehr in Anspruch nehmen können. Diese Höchstdauer, die Bestandteil der ungarischen Rechtsvorschriften ist, entspricht der in der Verordnung vorgesehenen Höchstdauer von drei Monaten, sofern der Aufenthalt nicht unterbrochen wird.
Polizei verweigert Einreise in ungarisches Hoheitsgebiet
Herr Shomodi, ein ukrainischer Staatsangehöriger, ist Inhaber einer Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr, die ihn berechtigt, sich in das Grenzgebiet Ungarns zu begeben. Am 2. Februar 2010 wollte er am Grenzübergang Záhony nach Ungarn einreisen. Die ungarische Polizei stellte fest, dass er sich zwischen dem 3. September 2009 und dem 2. Februar 2010 105 Tage im ungarischen Hoheitsgebiet aufgehalten und dort fast täglich mehrere Stunden verbracht hatte. Da sich Herr Shomodi somit innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten mehr als drei Monate innerhalb des Schengen-Raums aufgehalten hatte, verweigerte ihm die ungarische Polizei - unter Zugrundelegung der im Licht des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen ausgelegten ungarischen Rechtsvorschriften - die Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet.
Nationales Gericht erbittet Entscheidung des EuGH über Vereinbarkeit nationaler Regelungen mit EU-Verordnung
Herr Shomodi klagte gegen die Entscheidung der Polizei vor den ungarischen Gerichten. Der im Kassationsverfahren angerufene Legfelso"bb Bíróság (Oberster Gerichtshof, Ungarn) fragt den Gerichtshof, ob das betreffende Abkommen, das nach seiner Auslegung durch die ungarischen Behörden die Gesamtdauer der Aufenthalte eines Grenzbewohners im Grenzgebiet von Ungarn auf drei Monate innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten begrenzt, mit der Verordnung über den kleinen Grenzverkehr vereinbar ist.
Allgemeine Regel des Schengen-Besitzstands gilt nicht für kleinen Grenzverkehr
In seinem Urteil stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die allgemeine Regel des Schengen-Besitzstands, wonach der Aufenthalt von Ausländern auf einen Zeitraum von drei Monaten je Halbjahr beschränkt ist, nicht für den kleinen Grenzverkehr gilt. Er hebt hervor, dass die in der Verordnung über den kleinen Grenzverkehr festgelegte Beschränkung auf drei Monate "ununterbrochene Aufenthalte" betrifft, während sich die aus dem Schengen - Besitzstand resultierende Beschränkung nicht auf ununterbrochene Aufenthalte bezieht. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Kommission zwar im Laufe der Vorarbeiten zur Verordnung ursprünglich eine Angleichung an die Berechnung des im Schengen-Besitzstand vorgesehenen Maximalaufenthalts vorgeschlagen hatte, sich der Unionsgesetzgeber aber für eine spezielle Beschränkung, die auf ununterbrochene Aufenthalte abstellt, entschied. Dem Gerichtshof zufolge begründet der Umstand, dass die Obergrenze, wie im Schengen-Besitzstand, drei Monate beträgt, keine Zweifel daran, dass diese Beschränkung im Verhältnis zu den allgemeinen rechtlichen Regelungen für Drittstaatsangehörige, die keiner Visumpflicht unterworfen sind, Spezialcharakter hat. Aus der Verordnung geht nämlich nicht hervor, dass die dort genannten drei Monate in einen Sechsmonatszeitraum eingebettet sein sollen.
Verordnung über kleinen Grenzverkehr soll Grenzüberschreitung ohne übertriebene Verwaltungshürden ermöglichen
Im Übrigen wollte der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Verordnung über den kleinen Grenzverkehr eigenständige Regeln schaffen, die sich von denen des Schengen-Besitzstandes unterscheiden. Diese Regeln sollen es den Bewohnern der betroffenen Grenzgebiete er möglichen, die Landaußengrenzen der Union aus berechtigten Gründen wirtschaftlicher, sozialer, kultureller oder familiärer Natur zu überschreiten - und zwar einfach, d.h.ohne übertriebene Verwaltungshürden, häufig, aber auch regelmäßig.
Mitgliedstaaten dar bei missbräuchlicher oder betrügerischer Nutzung der Grenzübertrittsgenehmigung Sanktionen verhängen
Den von einigen Mitgliedstaaten geäußerten Befürchtungen, dass eine autonome Auslegung der Verordnung negative Auswirkungen haben könnte, hält der Gerichtshof entgegen, dass die Erleichterung des Grenzübertritts für Grenzbewohner bestimmt ist, die ordnungsgemäß nachgewiesene berechtigte Gründe haben, eine Landaußengrenze häufig zu überschreiten. Zudem steht es den Mitgliedstaaten weiterhin frei, Sanktionen gegen Personen zu verhängen, die ihre Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr missbräuchlich oder in betrügerischer Absicht verwenden.
Zahl der täglichen Grenzübertritte ist nicht zu berücksichtigen
Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass sich der Inhaber einer Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr im Grenzgebiet drei Monate lang frei bewegen können muss, wenn sein Aufenthalt dort nicht unterbrochen wird, und dass er nach jeder Unterbrechung seines Aufenthalts ein neues dreimonatiges Aufenthaltsrecht beanspruchen kann. Schließlich stellt der Gerichtshof klar, dass der Aufenthalt des Inhabers einer Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr in dem Moment als unterbrochen anzusehen ist, in dem der Betreffende die Grenze überschreitet, um in den Staat, in dem er ansässig ist, gemäß der ihm erteilten Genehmigung zurückzukehren, ohne dass es erforderlich wäre, die Zahl der täglichen Grenzübertritte zu berücksichtigen.
Erläuterungen
* - Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, unterzeichnet in Schengen am 19. Juni 1990 (ABl. 2000, L 239, S. 19).
** - Es handelt sich um die Verordnung (EG) Nr. 1931/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 zur Festlegung von Vorschriften über den kleinen Grenzverkehr an den Landaußengrenzen der Mitgliedstaaten sowie zur Änderung der Bestimmung en des Übereinkommens von Schengen (ABl. L 405, S. 1, berichtigt im ABl. 2007, L 29, S. 3).
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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 22.03.2013
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online
- Vorlage an den EuGH: Sind Aufenthaltserlaubnisse der Schweiz und Lichtensteins für die visumsfreie Einreise von Nicht-EU-Bürgern anzuerkennen?
(Oberlandesgericht Karlsruhe, Beschluss vom 04.04.2008
[Aktenzeichen: 3 Ss 79/07]) - BVerwG verneint Anspruch auf Schengen-Visum bei Zweifeln an Rückkehrbereitschaft
(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 15.11.2011
[Aktenzeichen: BVerwG 1 C 15.10])
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Dokument-Nr. 15488
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