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Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 06.12.2011
C-329/11 -

EuGH zur Zulässigkeit von strafrechtlichen Sanktionen gegen sich illegal aufhaltende Drittstaatenangehörige

Nationale Regelung darf keine längere Freiheitsstrafe während laufendem Rückkehrverfahren vorsehen

Nationale Rechtsvorschriften, die vorsehen, dass gegen sich illegal aufhaltende Drittstaatsangehörige noch während des Rückkehrverfahrens eine Freiheitsstrafe wegen des illegalen Aufenthalts verhängt werden kann, sind nicht mit der „Rückführungsrichtlinie“ vereinbar. Strafrechtlichen Sanktionen, die gemäß den nationalen Rechtsvorschriften und unter Achtung der Grundrechte gegen Drittstaatsangehörige verhängt werden, auf die das Rückkehrverfahren angewandt wurde und die sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für ihre Nichtrückkehr illegal aufhalten, steht die Richtlinie allerdings nicht entgegen. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Mit der Richtlinie über die Rückführung sich illegal aufhaltender Drittstaatsangehöriger (so genannte Rückführungsrichtlinie)* wurden gemeinsame Normen und Verfahren geschaffen, die die Mitgliedstaaten bei der Abschiebung von sich illegal aufhaltenden Drittstaatsangehörigen aus ihrem Hoheitsgebiet anzuwenden haben.

Rückkehrentscheidung muss grundsätzlich Frist für freiwillige Rückkehr eröffnen

Die Richtlinie sieht vor, dass gegen jeden sich illegal aufhaltenden Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen ist, die grundsätzlich eine Frist für die freiwillige Rückkehr eröffnet, der sich, soweit erforderlich, Maßnahmen zur zwangsweisen Abschiebung anschließen.

Abschiebehaft von maximal 18 Monaten nur bei gefährdeter Abschiebung zulässig

Für den Fall, dass eine freiwillige Ausreise nicht erfolgt, verpflichtet die Richtlinie die Mitgliedstaaten, die zwangsweise Abschiebung unter Einsatz von Maßnahmen durchzuführen, durch die so wenig Zwang wie möglich ausgeübt wird. Nur wenn die Abschiebung gefährdet zu werden droht, kann der Mitgliedstaat die betreffende Person in Abschiebehaft nehmen, deren Dauer in keinem Fall 18 Monate überschreiten darf.

Sachverhalt

Im vorliegenden Fall reiste Herr Achughbabian, ein armenischer Staatsangehöriger, im Jahr 2008 nach Frankreich ein. Im Jahr 2009 erließ der Präfekt des Departements Val-de-Marne gegen Herrn Achughbabian eine Verfügung, mit der dieser verpflichtet wurde, das französische Hoheitsgebiet zu verlassen; zugleich wurde ihm eine Frist von einem Monat für die freiwillige Ausreise gesetzt. Nachdem sich Herr Achughbabian weigerte, Frankreich zu verlassen, erging im Juni 2011 eine weitere Rückkehrentscheidung in Form einer Abschiebungsverfügung, in der keine Frist für die freiwillige Ausreise gesetzt war. Darüber hinaus ordneten die französischen Behörden zunächst die polizeiliche Ingewahrsamnahme von Herrn Achughbabian und anschließend dessen Inhaftnahme wegen illegalen Aufenthalts an. Diese Maßnahmen hat Herr Achughbabian in Frankreich gerichtlich angefochten.

Nationales Gericht legt EuGH Frage zur Vereinbarkeit der „Rückführungsrichtlinie“ mit französischen Rechtsvorschriften vor

Die Cour d’appel de Paris (Frankreich), bei der der Rechtsstreit gegenwärtig anhängig ist, fragt den Gerichtshof, ob die „Rückführungsrichtlinie“ den französischen Rechtsvorschriften** entgegensteht, nach denen Drittstaatsangehörige, die sich länger als drei Monate illegal in Frankreich aufhalten und nicht im Besitz der vorgeschriebenen Dokumente und Visa, insbesondere eines Aufenthaltstitels, sind, mit Freiheitsstrafe von einem Jahr und Geldstrafe von 3.750 Euro bestraft werden.

Zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichtshofs war Herr Achughbabian nicht mehr in Haft. Gleichwohl hat der Gerichtshof beschlossen, diese Rechtssache im beschleunigten Verfahren zu prüfen, da bei französischen Gerichten weitere vergleichbare Rechtssachen anhängig sind. Der Gerichtshof hat auf die Notwendigkeit hingewiesen, innerhalb kürzester Frist über die Rechtssache zu entscheiden, um einen möglichen rechtswidrigen Freiheitsentzug zu verhindern bzw. dessen Dauer zu verkürzen.

Richtlinie dient nicht dazu, nationale Regeln über Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren

In seinem Urteil hebt der Gerichtshof erstens hervor, dass sich die Richtlinie – deren Ziel nicht darin besteht, die nationalen Regeln über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren – nur auf die Rückkehrentscheidung und deren Vollstreckung bezieht. Daher steht die Richtlinie 2008/115 einer nationalen Regelung, die den illegalen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen als Straftat einstuft und strafrechtliche Sanktionen einschließlich einer Freiheitsstrafe vorsieht, nicht entgegen.

Richtlinie steht Inhaftierung zur Ermittlung eines möglichen illegalen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen nicht entgegen

Die Richtlinie steht auch einer Inhaftierung zur Ermittlung, ob der Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen illegal ist oder nicht, nicht entgegen. Der Gerichtshof weist allerdings darauf hin, dass die nationalen Behörden verpflichtet sind, zügig zu handeln und innerhalb kürzester Frist darüber zu entscheiden. Stellt sich heraus, dass der Aufenthalt illegal ist, müssen diese Behörden grundsätzlich eine Rückkehrentscheidung erlassen.

Zweitens prüft der Gerichtshof, ob die französische Regelung insoweit mit der Richtlinie vereinbar ist, als sie zu einer Inhaftierung zur Strafvollstreckung während des Rückkehrverfahrens führen kann.

Nationale strafrechtliche Vorschriften im Bereich der illegalen Einwanderung bzw. des illegalen Aufenthalts müssen Wahrung des Unionsrechts gewährleisten

Der Gerichtshof weist zunächst auf sein Urteil in der Rechtssache El Dridi hin (Urteil des Gerichtshofs vom 28. April 2011, C-61/11 PPU), wonach die Mitgliedstaaten ihre strafrechtlichen Vorschriften im Bereich der illegalen Einwanderung und des illegalen Aufenthalts so ausgestalten müssen, dass die Wahrung des Unionsrechts gewährleistet ist. Die Mitgliedstaaten dürfen somit keine strafrechtliche Regelung anwenden, die die Verwirklichung der mit der „Rückführungsrichtlinie“ verfolgten Ziele gefährden und sie ihrer praktischen Wirksamkeit berauben könnte.

Verhängung und Vollstreckung einer Freiheitsstrafe während des vorgesehenen Rückkehrverfahrens nicht mit Richtlinie vereinbar

Sodann legt der Gerichtshof die in der Richtlinie verwendeten Begriffe „Maßnahmen“ und „Zwangsmaßnahmen“ aus und stellt fest, dass diese sich auf jegliches Vorgehen beziehen, das auf wirksame Weise unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit zur Rückkehr des Betroffenen führt. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Verhängung und Vollstreckung einer Freiheitsstrafe während des von der Richtlinie vorgesehenen Rückkehrverfahrens nicht zur Verwirklichung der mit diesem Verfahren verfolgten Abschiebung beiträgt. Eine derartige Strafe stellt somit keine „Maßnahme“ oder „Zwangsmaßnahme“ im Sinne der Richtlinie dar.

Unionsrecht steht hier nationaler Regelung entgegen

Der Gerichtshof stellt fest, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Inhaftierung eines sich illegal aufhaltenden Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, gegen den keine Zwangsmaßnahmen nach dieser Richtlinie verhängt wurden und dessen Haft im Fall einer Inhaftnahme zur Vorbereitung und Durchführung seiner Abschiebung die höchstzulässige Dauer noch nicht erreicht hat***.

Erlassen von Strafvorschriften zulässig, sofern Zwangsmaßnahmen Abschiebung nicht ermöglicht haben

Schließlich weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Mitgliedstaaten unter Beachtung der Grundsätze und des Ziels der „Rückführungsrichtlinie“ Strafvorschriften erlassen oder beibehalten dürfen, die den Fall regeln, dass Zwangsmaßnahmen es nicht ermöglicht haben, einen sich illegal aufhaltenden Drittstaatsangehörigen abzuschieben.

Der Gerichtshof leitet daraus ab, dass die Richtlinie dem nicht entgegensteht, dass gemäß nationalen Rechtsvorschriften und unter Achtung der Grundrechte strafrechtliche Sanktionen gegen Drittstaatsangehörige verhängt werden, auf die das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und die sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für ihre Nichtrückkehr illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten.

Erläuterungen

* -  Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98).

** -  Art. L.621-1 des Code de l‘entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile du code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile (Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht).

*** - Die „Rückführungsrichtlinie“ legt die Höchstdauer für die Inhaftierung auf 18 Monate fest. Die jeweilige Höchstdauer ist in den Mitgliedstaaten nicht einheitlich geregelt. Im französischen Recht ist eine Höchstdauer von 45 Tagen vorgesehen.

 

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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 06.12.2011
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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