Hier beginnt die eigentliche Meldung:
Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 11.03.2008
- 1 BvR 2074/05, 1 BvR 1254/07 -
Automatisches Kfz-Kennzeichen-Scanning ist verfassungswidrig
Hessische und schleswig-holsteinische Vorschriften zur automatisierten Erfassung von Kfz-Kennzeichen nichtig
Die Verfassungsbeschwerden mehrerer Kraftfahrzeughalter gegen polizeirechtliche Vorschriften in Hessen und Schleswig-Holstein, die zur automatisierten Erfassung der amtlichen Kfz-Kennzeichen ermächtigen, waren erfolgreich. Das Bundesverfassungsgericht hat die angegriffenen Vorschriften für nichtig erklärt, da sie das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführer in seiner Ausprägung als Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verletzen.
Die beanstandeten Regelungen genügen nicht dem Gebot der Normenbestimmtheit und Normenklarheit, da sie weder den Anlass noch den Ermittlungszweck benennen, dem die Erhebung und der Abgleich der Daten dienen sollen. Darüber hinaus genügen die angegriffenen Vorschriften in ihrer unbestimmten Weite auch dem verfassungsrechtlichen Gebot der
Sachverhalt
Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen polizeigesetzliche Vorschriften, zur automatisierten Erfassung von Kraftfahrzeugkennzeichen auf öffentlichen Straßen und Plätzen zum Zwecke eines elektronischen Abgleichs mit dem Fahndungsbestand ermächtigen. Angegriffen sind § 14 Abs. 5 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) und § 184 Abs. 5 des Allgemeinen Verwaltungsgesetzes für das Land Schleswig-Holstein (Landesverwaltungsgesetz - LVwG -).
Die Fahrzeuge werden zunächst durch eine Kamera optisch erfasst. Mit Hilfe von Software wird die Buchstaben- und Zeichenfolge des amtlichen Kennzeichens ermittelt. Die Erfassung kann stationär oder mobil erfolgen. Bei stationären Systemen werden die Erfassungsgeräte, vergleichbar der Geschwindigkeitsmessung, an einem bestimmten Ort eingesetzt. Bei mobilen Systemen werden die Geräte etwa aus einem fahrenden Polizeifahrzeug heraus eingesetzt, zum Beispiel um Fahrzeuge auf einem Parkplatz oder im fließenden Verkehr zu kontrollieren. Die erfassten Kennzeichen werden automatisch mit dem Fahndungsbestand abgeglichen. Ist ein Kennzeichen im Fahndungsbestand enthalten, werden die betreffenden Informationen gespeichert. Die Maßnahme soll der Suche nach Fahrzeugen oder Kennzeichen dienen, die als gestohlen gemeldet sind oder nach denen aus sonstigen Gründen gefahndet wird.
Die Beschwerdeführer sind eingetragene Halter ihrer Kraftfahrzeuge, mit denen sie regelmäßig auf öffentlichen Straßen in dem jeweiligen Bundesland unterwegs sind. Sie sehen sich in ihrem
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt
I. Die automatisierte Kennzeichenerfassung greift in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung ein, wenn das Kennzeichen nicht unverzüglich mit dem Fahndungsbestand abgeglichen und ohne weitere Auswertung sofort wieder gelöscht wird.
1. Der grundrechtliche Schutz entfällt nicht schon deshalb, weil die betroffene Information öffentlich zugänglich ist - wie es für Kraftfahrzeugkennzeichen, die der Identifizierung dienen, sogar vorgeschrieben ist. Auch wenn der Einzelne sich in die Öffentlichkeit begibt, schützt das Recht der informationellen Selbstbestimmung dessen Interesse, dass die damit verbundenen personenbezogenen Informationen nicht im Zuge automatisierter Informationserhebung zur Speicherung mit der Möglichkeit der Weiterverwertung erfasst werden.
2. Zu einem Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung kommt es in den Fällen der elektronischen Kennzeichenerfassung aber dann nicht, wenn der Abgleich mit dem Fahndungsbestand unverzüglich vorgenommen wird und negativ ausfällt sowie zusätzlich rechtlich und technisch gesichert ist, dass die Daten anonym bleiben und sofort spurenlos und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, gelöscht werden. In diesen Fällen begründen die Datenerfassungen keinen Gefährdungstatbestand.
3. Demgegenüber liegt ein Eingriff in das
II. Eingriffe in das
1. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ermächtigungsgrundlage richten sich nach dem Gewicht des Eingriffs, das insbesondere von der Art der erfassten Information, dem Anlass und den Umständen ihrer Erhebung, dem betroffenen Personenkreis und der Art der möglichen Verwertung der Daten beeinflusst wird.
Die vorliegend zu beurteilende automatisierte Kennzeichenerfassung kann insbesondere je nach Verwendungskontext zu Grundrechtsbeschränkungen von unterschiedlichem Gewicht führen. Dient sie allein dem Zweck, gestohlene Fahrzeuge ausfindig zu machen und deren Fahrer zu "stellen", insbesondere auch um Anschlusstaten zu verhindern, oder die Weiterfahrt von Fahrzeugen ohne ausreichenden Versicherungsschutz auszuschließen, weist die Maßnahme für den Betroffenen eine vergleichsweise geringe Persönlichkeitsrelevanz auf. Soll die automatisierte Kennzeichenerfassung dagegen dazu dienen, die gewonnenen Informationen für weitere Zwecke zu nutzen, etwa um Aufschlüsse über das Bewegungsverhalten des Fahrers oder sonstige persönlichkeitsrelevante Informationen über einzelne Fahrten zu erhalten, so wandelt sich die Grundrechtsrelevanz der Maßnahme. Insbesondere durch längerfristige oder weiträumig vorgenommene Kennzeichenerfassungen sind Eingriffe von erheblichem Gewicht möglich.
Verstoß gegen das Gebot der Normenbestimmtheit und Normenklarheit
2. Die Normen verstoßen gegen das Gebot der Normenbestimmtheit und Normenklarheit.
a) Es fehlt an einer hinreichenden bereichsspezifischen und normenklaren Bestimmung des Anlasses und des Verwendungszwecks der automatisierten Erhebung.
Die angegriffenen Vorschriften erlauben die Kennzeichenerfassung "zum Zwecke" des Abgleichs mit dem Fahndungsbestand. Damit wird jedoch weder der Anlass noch der Ermittlungszweck benannt, dem sowohl die Erhebung als auch der Abgleich letztlich dienen sollen. Eine Präzisierung des Anwendungsbereichs der Ermächtigung wird durch die Verwendung der Begriffe des "Fahndungsbestands" und der "Fahndungsnotierung" nicht geleistet. Diese Begriffe haben den Charakter einer dynamischen Verweisung, durch die insbesondere nicht ausgeschlossen wird, dass sich der Umfang der einbezogenen Datenbestände laufend und in gegenwärtig nicht vorhersehbarer Weise verändert.
Die gesetzlichen Ermächtigungen sind so unbestimmt gefasst, dass sie es nicht ausschließen, auch Ausschreibungen zur polizeilichen Beobachtung als Bestandteil des Fahndungsbestands anzusehen mit der Folge, dass mit Hilfe der automatisierten Kennzeichenerfassung auch eine polizeiliche Beobachtung durchgeführt werden kann. Damit wird eine systematische, räumlich weit reichende Sammlung von Informationen über das Bewegungsverhalten von Fahrzeugen und damit auch von Personen technisch und mit relativ geringem Aufwand möglich. Der Eingriff erhält dadurch eine veränderte Qualität mit gesteigerter Intensität und bedarf einer darauf abgestimmten Eingriffsermächtigung.
Das in Schleswig-Holstein normierte Verbot eines flächendeckenden Einsatzes führt nur zu einer gewissen Eingrenzung des möglichen Umfangs der Kennzeichenerfassung. Damit wird jedoch weder ein routinemäßiger Einsatz einer anlasslosen Kennzeichenerfassung noch deren gezielter Einsatz zur Beobachtung bestimmter Fahrzeuge ausgeschlossen. Infolge der Anknüpfung der Maßnahme an den Fahndungsbestand bei gleichzeitiger Unbestimmtheit des Verwendungszwecks ist den landesrechtlichen Regelungen nicht zu entnehmen, ob die Kennzeichenerfassung auch zu strafprozessualen Zwecken, einschließlich der Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten im Vorfeld eines Verdachts, eingesetzt werden darf.
Selbst wenn es möglich sein dürfte, einige der Bestimmtheitsdefizite durch Auslegung zu beseitigen, können die Mängel, insbesondere die fehlende Bestimmtheit des Verwendungszweckes, nicht insgesamt durch eine einengende verfassungskonforme Auslegung geheilt werden. Eine solche Auslegung setzt Anhaltspunkte dafür voraus, dass der enger gefasste Zweck der maßgebliche sein soll. Daran fehlt es hier.
b) Mit dem Fehlen der Zweckbestimmung der automatisierten Kennzeichenerfassung geht eine grundrechtswidrige Unbestimmtheit auch hinsichtlich der erhebbaren Informationen einher. Beide Regelungen lassen offen, ob oder gegebenenfalls welche weiteren Informationen neben der Ziffern- und Zeichenfolge des Kennzeichens erhoben werden dürfen. Obwohl die Bestimmungen bei enger Auslegung allein eine Erfassung des Kfz-Kennzeichens erlauben, geht mit der gegenwärtig üblichen Erhebung des Kennzeichens durch Videobilder notwendig eine Erfassung aller auf dem Bild erkennbaren Einzelheiten, möglicherweise auch solche über die Insassen des Fahrzeugs einher. Da der Verwendungszweck für die erhobenen Informationen nicht hinreichend klar und bestimmt geregelt ist, kann auch der Umfang der erhebbaren Informationen durch eine solche, auf die Zweckbestimmung verweisende Auslegung nicht hinreichend eingegrenzt werden.
Verfassungsrechtliches Gebot der Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt
3. Die angegriffenen Bestimmungen genügen in ihrer unbestimmten Weite auch dem verfassungsrechtlichen Gebot der
Sie ermöglichen schwer wiegende Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen, ohne die für derart eingriffsintensive Maßnahmen grundrechtlich geforderten gesetzlichen Eingriffsschwellen hinreichend zu normieren. Mit dem Grundsatz der
III. Den Landesgesetzgebern stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, um eine im Rahmen ihrer Zuständigkeit verbleibende und sowohl hinreichend bestimmte als auch angemessene Eingriffsermächtigung zu schaffen. Für eine die
Werbung
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 11.03.2008
Quelle: ra-online, Pressemitteilungen des BVerfG vom 27.09.2007 und 11.03.2008
Fundierte Fachartikel zum diesem Thema beim Deutschen Anwaltsregister:
Urteile sind im Original meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst kostenlose-urteile.de alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.
Dokument-Nr. 5730
Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://www.kostenlose-urteile.de/Urteil5730
Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.
Senden Sie uns diese Entscheidungen doch einfach für kostenlose-urteile.de zu. Unsere Redaktion schaut gern, ob sich das Urteil für eine Veröffentlichung eignet.