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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14.06.2007
2 BvR 1447/05; 2 BvR 136/05 -

§ 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO bei verfassungskonformer Auslegung mit Grundgesetz vereinbar

§ 354 Strafprozessordnung ist durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 um den Absatz 1 a ergänzt worden. Die neue Bestimmung erlaubt dem Revisionsgericht u.a., von einer Aufhebung des angefochtenen Urteils abzusehen, wenn dem Tatgericht bei der Strafzumessung zwar ein Fehler unterlaufen ist, sich die verhängte Rechtsfolge aber gleichwohl als „angemessen“ herausstellt.

Gegenstand der Verfassungsbeschwerden sind Revisionsentscheidungen des Brandenburgischen Oberlandesgerichts und des Bundesgerichtshofs. In beiden Fällen hatte das Gericht unter Anwendung von § 354 Abs. 1 a StPO von der Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs abgesehen.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts stellte fest, dass § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO mit dem Grundgesetz vereinbar ist, wenn die Vorschrift verfassungskonform ausgelegt wird. Die Entscheidung des Brandenburgischen Oberlandesgerichts hob der Senat jedoch auf, weil sie dem verfassungskonform ausgelegten § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO nicht gerecht wird. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs hatte keinen Bestand, da das Gericht nach § 354 Abs. 1 a StPO entschieden hatte, obwohl die Voraussetzungen für eine Anwendung dieser Norm nicht vorlagen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. Die verfassungsrechtliche Problematik des § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO liegt darin, dass das Revisionsgericht die Strafe nach Aktenlage zumessen kann. Grundlage ist der durch die Vorinstanz vorformulierte Strafzumessungssachverhalt. Nach seinem Wortlaut stellt § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO nicht verlässlich sicher, dass das Revisionsgericht seine Straffestsetzung auf der Grundlage eines wahren Strafzumessungssachverhalts trifft. Einzige Erkenntnisquelle der Revisionsgerichte ist das angegriffene Urteil. Dieses kann auf Fehlern in der Sachverhaltsaufklärung beruhen, die für das Revisionsgericht nicht immer erkennbar werden. Aber auch ohne Versäumnisse und Fehler der Tatgerichte bei der Sachverhaltsaufklärung bieten die vorinstanzlichen Erkenntnisse nicht immer Gewähr für eine ausreichende Strafzumessungsgrundlage. Amts- und Landgerichte sind gesetzlich nicht zu vollständiger und abschließender Dokumentation ihrer Strafzumessungsgründe verpflichtet. Hinzu kommt, dass sich das Wissen des Tatrichters, der die Strafe unter dem Eindruck der Hauptverhandlung zuzumessen und zu verantworten hat, einem Dritten, der die Verhandlung nicht selbst unmittelbar erlebt hat, nur unzureichend vermitteln lässt.

§ 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO ist daher verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass das Revisionsgericht nur dann eine eigene Strafzumessung vornehmen darf, wenn ihm ein zutreffend ermittelter, vollständiger und aktueller Strafzumessungssachverhalt zur Verfügung steht. Dabei kann das Revisionsgericht auf Grund der Fehleranfälligkeit jeglicher Strafzumessung anhand eines vorinstanzlichen Urteils nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass ihm ein Sachverhalt zur Verfügung steht, der für eine fehlerfreie Strafzumessung hinreicht. Von Ausnahmen abgesehen, wird es sich deshalb über das Vorliegen einer vollständigen und verlässlichen Entscheidungsgrundlage Gewissheit verschaffen müssen. Dies kann dadurch geschehen, dass das Gericht dem Angeklagten eine Gelegenheit zur Stellungnahme im Revisionsverfahren einräumt. Dabei hat das Revisionsgericht den Angeklagten grundsätzlich auf die aus seiner Sicht für eine Strafzumessungsentscheidung nach § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO sprechenden Gründe hinzuweisen. Aufgrund der vom Angeklagten abgegebenen Stellungnahme hat das Revisionsgericht zu entscheiden, ob stichhaltige Gründe vorliegen, die einer eigenen Strafzumessung im Wege stehen.

Macht das Revisionsgericht von der ihm eingeräumten Strafzumessungskompetenz Gebrauch, muss es – ungeachtet des Grundsatzes, wonach letztinstanzliche Entscheidungen nicht begründet werden müssen – seine Entscheidung jedenfalls dann begründen, wenn die für die Strafzumessung relevanten Umstände und deren konkretes Gewicht dem Angeklagten sonst nicht nachvollziehbar wären. Eine Strafzumessungsentscheidung des Revisionsgerichts, die auf bislang im Verfahren nicht oder wesentlich anders gewichteten Umständen beruht, dies aber nicht erkennen lässt, würde die allgemeinen Grundsätze eines rechtsstaatlichen und transparenten Strafverfahrens nicht hinreichend beachten und brächte die Gefahr mit sich, dass sich der Angeklagte als Objekt staatlichen Handelns empfindet und die Akzeptanz der Entscheidung leidet.

II. Der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts wird dem verfassungskonform ausgelegten § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO nicht gerecht. Das Oberlandesgericht hat seine Entscheidung nicht ausreichend begründet und damit den Anspruch des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren verletzt.

Der Beschluss des Bundesgerichtshofs verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Bundesgerichtshof hat nach § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO entschieden, obwohl die Voraussetzungen für eine Anwendung dieser Norm nicht vorlagen. Durch diese Annahme eigener Zuständigkeit wurde dem Beschwerdeführer der gesetzliche Richter entzogen. Es lag nicht lediglich eine Gesetzesverletzung bei der Zumessung der Rechtsfolgen vor. Vielmehr nahm der Bundesgerichtshof zugleich eine Korrektur des Schuldspruchs vor. Dieses Vorgehen ist mit dem Wortlaut des § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO nicht zu vereinbaren. Die Bestimmung lässt ihre Anwendung „nur“ bei einer Gesetzesverletzung anlässlich der Zumessung der Rechtsfolgen zu. Dies schließt eine Strafzumessungsentscheidung des Revisionsgerichts aus, wenn zugleich eine Neuentscheidung über einen – fehlerhaften – Schuldspruch erfolgen muss.

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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 23.07.2007
Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 76/07 des BVerfG vom 06.07.2007

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