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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 20.12.2011
38254/04, 39775/04 und 12986/04 -

EGMR: Kirchen dürfen Beschäftigungsverhältnisse ohne staatliche Eingriffe regeln

Recht auf ein faires Verfahren gemäß Menschenrechtskonvention nicht verletzt

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Entscheidung in mehreren Verfahren entschieden, dass der Kirche das Recht zusteht, Beschäftigungsverhältnisse ohne staatliche Eingriffe zu regeln.

Die Beschwerdeführer sind Andreas Baudler, 1950 geboren, amerikanischer Staatsangehöriger und wohnhaft in Ravensburg, sowie Roland Reuter, 1955 geboren, deutscher Staatsangehöriger und wohnhaft in Moers.

Pfarrer nach Unstimmigkeiten mit ihren Gemeinde in den Wartestand versetzt

Herr Andreas Baudler war seit 1982 Pfarrer in einer evangelischen Gemeinde in Böblingen und Roland Reuter seit 1986 Pfarrer in einer evangelischen Gemeinde in Utfort. Beide wurden 1994 nach Unstimmigkeiten mit ihren Gemeinden von der jeweiligen Kirche in den Wartestand versetzt, verbunden mit reduzierten Gehaltsbezügen. Andreas Baudler wurde im Juni 1999 in den Schuldienst versetzt und ist seitdem als Pfarrer für Religionsunterricht tätig. Roland Reuter wurde 1998 in den Ruhestand versetzt.

Bundesverfassungsgericht nimmt Beschwerden der Pfarrer nicht zur Entscheidung an

Andreas Baudler und Roland Reuter betrieben jeweils erfolglos ein Verfahren vor den innerkirchlichen Instanzen gegen diese Entscheidungen und die damit einhergehenden Gehaltskürzungen sowie Einschränkungen bei der Sozialversicherung. Das Bundesverfassungsgericht nahm ihre jeweiligen Verfassungsbeschwerden 1999 mit der Begründung nicht zur Entscheidung an, die Beschwerdeführer hätten den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten nicht erschöpft (Az. 2 BvR 2307/94 bzw. 2 BvR 1635/96).

Kirchliches Dienstrecht fällt in Bereich der innerkirchlichen Angelegenheiten

Die Beschwerdeführer erhoben daraufhin Klage bei den Verwaltungsgerichten, die diese für unzulässig erklärten, weil das kirchliche Dienstrecht in den Bereich der innerkirchlichen Angelegenheiten falle. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nach Artikel 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung von 1919, der Bestandteil des Grundgesetzes ist, umfasse nicht nur das Recht der Kirchen, Stellen frei von staatlichem Einfluss zu besetzen, sondern auch das Recht, die für diese Stellen erforderlichen Eigenschaften sowie die mit ihnen verbundenen Rechte und Pflichten festzulegen. Die Kirchen hätten außerdem keinen Gebrauch von der Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung der angefochtenen Maßnahmen nach dem Beamtenrechtsrahmengesetz gemacht. Folglich sei der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten nicht gegeben.

BVerfG hält Maßnahmen im Fall Baudler weder für willkürlich noch für unwirksam

Am 27. Januar 2004 nahm der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts eine zweite Verfassungsbeschwerde Andreas Baudlers nicht zur Entscheidung an (Az. 2 BvR 496/01). Andreas Baudler hatte sich auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs berufen, wonach staatliche Gerichte eine beschränkte Überprüfung kirchlicher Maßnahmen vornehmen und diese auf ihre Wirksamkeit (nicht aber auf ihre Rechtmäßigkeit) hin überprüfen könnten, d.h. befugt seien, zu prüfen, ob die strittige Maßnahme mit den Grundsätzen der Rechtsordnung, wie dem Willkürverbot, den guten Sitten oder der öffentlichen Ordnung, vereinbar sei. Das Bundesverfassungsgericht war der Auffassung, dass im Fall Andreas Baudlers nichts den Schluss zulasse, dass die Maßnahme im Sinne der vom Bundesgerichtshof entwickelten Maßstäbe willkürlich oder unwirksam gewesen sei.

BVerfG nimmt auch zweite Beschwerde Roland Reuters nicht zur Entscheidung an

Im Mai 2004 nahm das Bundesverfassungsgericht eine zweite Verfassungsbeschwerde Roland Reuters nicht zur Entscheidung an (Az. 2 BvR 1327/03). Die Beschwerdeführer, Hanna und Peter Müller, 1951 bzw. 1952 geboren, sind ein schweizerisch-deutsches Ehepaar und leben in Aarau (Schweiz). 1975 traten sie in den Offiziersdienst der Heilsarmee ein und unterzeichneten eine Verpflichtungserklärung, in der sie sich ausdrücklich damit einverstanden erklärten, nicht bei der Heilsarmee „angestellt“ zu sein und keinen Arbeitsvertrag mit ihr abzuschließen.

Offiziersdient wegen beanstandeter Arbeit für beendet erklärt

Während ihrer Tätigkeit im missionarischen Dienst beanstandete der Vorgesetzte ihre Arbeit; insbesondere hielt er ihnen Mängel in der Buchführung und den Zustand der Räumlichkeiten vor. Die Heilsarmee versetzte die Beschwerdeführer zunächst in die Schweiz und stellte sie im Januar 2001 „indisponibel“; anschließend wurde ihr Offiziersdient für beendet erklärt, da sie dafür nicht mehr tauglich seien.

BGH: Entlassung der Beschwerdeführer zulässig

Ohne die Untersuchungskommission der Heilsarmee angerufen zu haben, fochten die Beschwerdeführer die Beendigung ihres Offiziersdienstes vor den deutschen Zivilgerichten an und forderten Gehaltsnachzahlungen für den Zeitraum von März bis November 2001. Das Oberlandesgericht Köln und der Bundesgerichtshof erklärten die Beschwerde zwar für zulässig, wiesen sie aber als unbegründet ab. Sie beriefen sich dabei auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs von 2000 (Az. V ZR 271/99), wonach die Frage, ob eine kirchliche Maßnahme der Prüfung staatlicher Gerichte unterliege, zwar nicht im Rahmen der Zulässigkeit, sondern der Begründetheit zu entscheiden, der Prüfungsumfang der staatlichen Gerichte aber begrenzt sei. Wenn die Abwägung zwischen dem Selbstverwaltungsrecht der Kirchen und dem Recht des Betroffenen zu dem Schluss führe, dass eine kirchliche Maßnahme ausschließlich in den Geltungsbereich des Selbstverwaltungsrechts der Kirchen falle, könnten die staatlichen Gerichte diese Maßnahme nicht auf ihre Rechtmäßigkeit, sondern lediglich auf ihre Wirksamkeit hin überprüfen, d.h. untersuchen, ob die strittige Maßnahme mit den Grundsätzen der Rechtsordnung, wie dem Willkürverbot, den guten Sitten oder der öffentlichen Ordnung, vereinbar sei. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs lasse nichts den Schluss zu, dass die Entlassung der Beschwerdeführer gegen diese Grundsätze verstoßen habe.

Beschwerdeführer rügen Verletzung des Rechts auf Zugang zum Gericht

Unter Berufung insbesondere auf Artikel 6 § 1 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), rügten die Beschwerdeführer die Verletzung ihres Rechts auf Zugang zu einem Gericht, um die kirchlichen Entscheidungen überprüfen zu lassen.

Beschwerde beim EGMR eingelegt

Die Beschwerde Andreas Baudlers wurde am 22. Oktober 2004, diejenige Roland Reuters am 8. November 2004 und die Beschwerde des Ehepaars Müller am 2. April 2004 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.

Recht auf ein faires Verfahren im Fall Bauder und Reuter nicht verletzt

Der Gerichtshof nahm zur Kenntnis, dass den umstrittenen Entscheidungen über die kirchlichen Beschäftigungsverhältnisse in den Verfahren Baudler und Reuter die jeweiligen Bestimmungen der Kirchen zur Regelung der Dienstverhältnisse ihrer Geistlichen zugrunde lagen. Die Beschäftigungsverhältnisse waren also nicht durch staatliches, sondern ausschließlich durch kirchliches Recht geregelt. Die Verwaltungsgerichte hatten, ihrer ständigen Rechtsprechung folgend, entschieden, dass die angefochtenen Maßnahmen eindeutig eine innerkirchliche Angelegenheit seien und nicht von staatlichen Gerichten geprüft werden könnten. Der Bundesgerichtshof hatte 2000 zwar eine neue Rechtsprechung zu dieser Frage begründet. Nach Auffassung des Gerichtshofs hatten die Beschwerdeführer allerdings nicht dargelegt, inwieweit diese Rechtsprechung auf ihre Situation anwendbar war.

Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass die von den Beschwerdeführern angestrengten Verfahren kein nach deutschem Recht anerkanntes Recht betrafen, so dass Artikel 6 EMRK zum Tragen käme.

Berufen auf Recht auf ein faires Verfahren im Fall des Ehepaars Müller gerechtfertigt

Im Hinblick auf den Fall Müller stellte der Gerichtshof fest, dass das Oberlandesgericht Köln und der Bundesgerichtshof der Auffassung waren, dass ihre Befugnis zur Überprüfung der Entscheidung der Heilsarmee, die Beschwerdeführer zu entlassen, darauf beschränkt sei, zu untersuchen, ob die Entscheidung mit den Grundsätzen der Rechtsordnung, wie dem Willkürverbot, den guten Sitten oder der öffentlichen Ordnung, vereinbar sei. Im Unterschied zu den Fällen Baudler und Reuter konnten sich die Beschwerdeführer also auf ein nach deutschem Recht anerkanntes Recht berufen, Artikel 6 war folglich anwendbar.

Beschwerdeführern wurde Recht zur Erzielung einer gerichtlichen Entscheidung in ihrer Sache nicht vorenthalten

Die Beschwerdeführer hatten vor den Zivilgerichten Klage erheben können, sie bemängelten aber den beschränkten Prüfungsumfang der Gerichte. Der Gerichtshof nahm zur Kenntnis, dass diese Beschränkung auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nach Artikel 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung zurückzuführen ist. Weiterhin stellte er fest, dass die deutschen Gerichte berücksichtigt hatten, dass die Beschwerdeführer die Untersuchungskommission der Heilsarmee nicht angerufen hatten, um ihre Entlassung anzufechten, und dass nach Auffassung der deutschen Gerichte nichts darauf hingewiesen habe, dass die Entscheidung der Heilsarmee willkürlich gewesen wäre oder den guten Sitten oder der öffentlichen Ordnung widersprochen hätte. Der Gerichtshof war folglich der Auffassung, dass die Beschwerdeführer nicht behaupten konnten, ihnen sei das Recht vorenthalten worden, im Hinblick auf ihre Beschwerde eine gerichtliche Entscheidung in der Sache zu erzielen.

Beschwerden mehrheitlich für unzulässig erklärt

Angesichts dieser Überlegungen erklärte der Gerichtshof mit einer Mehrheit der Stimmen alle drei Beschwerden für unzulässig.

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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 20.12.2011
Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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