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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20.12.2012
- 1 BvR 2794/10 -
Verfassungsbeschwerde gegen versammlungsrechtliche Auflagen erfolgreich
Verwaltungsgerichte müssen bereits im Eilverfahren versammlungsrechtliche Maßnahmen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vollständig überprüfen
Das Bundesverfassungsgericht hat die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für den Rechtsschutz gegen versammlungsrechtliche Maßnahmen bekräftigt und entschieden, dass die Verwaltungsgerichte bereits im Eilverfahren eine vollständige - und nicht nur summarische - Überprüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durchführen müssen. Sofern dies im Einzelfall aus Zeitgründen nicht möglich ist, haben sie jedenfalls eine sorgfältige und hinreichend begründete Folgenabwägung vorzunehmen. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen hielten diesen Maßstäben nicht stand.
Die Beschwerdeführer des zugrunde liegenden Falls meldeten für den 16. Oktober 2010 von 12.00 bis 20.00 Uhr eine Versammlung in der Innenstadt von L. an. Diese sollte aus drei Aufzügen und einer Abschlusskundgebung mit geschätzt 600 Teilnehmern bestehen. Das Motto "Recht auf Zukunft" bezog sich auf eine frühere Versammlung, die einer der Beschwerdeführer - eine Unterorganisation der
Polizeidirektion verweist auf eine maximal durchführbare vierstündige stationäre Kundgebung
Die Polizeidirektion L. bekundete in einer Gefährdungsanalyse vom 4. Oktober 2010, dass der Schutz von zwei Aufzügen mit den verfügbaren Einsatzkräften gewährleistet werden könne. Einer der Beschwerdeführer teilte am 11. Oktober 2010 mit, dass nur noch ein Aufzug stattfinden solle. Am 12. Oktober 2010 ergänzte die Polizeidirektion L. ihre Gefahrprognose insofern, dass lediglich eine maximal vierstündige stationäre Kundgebung durchführbar sei. Nach den Erfahrungen vom 17. Oktober 2009 sei mit einer höheren als der angemeldeten Teilnehmerzahl zu rechnen. Zudem seien jeweils ca. 10 bis 20 % der Teilnehmer der angemeldeten Demonstration und der Gegendemonstrationen als gewaltbereit einzustufen. Nur 29 der für erforderlich gehaltenen 44 Polizeihundertschaften stünden zur Verfügung.
Stadt untersagt Durchführung der Versammlung als Aufzug
Am 13. Oktober 2010 untersagte die Stadt L. die Durchführung der Versammlung als Aufzug, verfügte die Durchführung als stationäre Kundgebung in der Zeit von 13.00 bis 17.00 Uhr in einem Bereich am Hauptbahnhof und ordnete die sofortige Vollziehung dieser Auflage an.
Widerspruch gegen Untersagung des Aufzugs erfolglos
Am gleichen Tag legten die Beschwerdeführer hiergegen Widerspruch ein und wandten sich zugleich im Eilrechtsschutzverfahren an das Verwaltungsgericht. Dieses lehnte die Eilanträge mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 ab. Das Oberverwaltungsgericht wies die hiergegen gerichtete Beschwerde am gleichen Tage zurück. Vor dem Bundesverfassungsgericht blieb ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung - aufgrund der besonderen Voraussetzungen für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes - erfolglos. Jedoch hat die Kammer auf die Möglichkeit hingewiesen, die aufgeworfenen Fragen in einem verfassungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren zu klären (Beschluss vom 16. Oktober 2010 - 1 BvQ 39/10 -).
Beschwerdeführer in Recht auf Versammlungsfreiheit und Recht auf effektiven Rechtschutz verletzt
Die daraufhin erhobene Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 (Versammlungsfreiheit) in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG (Recht auf effektiven Rechtsschutz).
Auflagen für Versammlung nur bei erkennbaren Umständen für Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zulässig
Beschränkungen der
Fachgericht müssen sorgfältige Folgenabwägung vornehmen
Die Verwaltungsgerichte müssen zum Schutz von Versammlungen, die auf einen einmaligen Anlass bezogen sind, schon im Eilverfahren durch eine intensivere Prüfung dem Umstand Rechnung tragen, dass der Sofortvollzug der umstrittenen Maßnahme in der Regel zur endgültigen Verhinderung der Versammlung in der beabsichtigten Form führt. Soweit möglich ist als Grundlage der gebotenen Interessenabwägung die Rechtmäßigkeit der Maßnahme in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nicht nur summarisch zu prüfen. Sofern dies nicht möglich ist, haben die Fachgerichte jedenfalls eine sorgfältige Folgenabwägung vorzunehmen und diese hinreichend substantiiert zu begründen.
VG erfüllt Anforderungen an intensive Rechtmäßigkeitsprüfung nicht
Diese Maßstäbe haben das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht nicht hinreichend berücksichtigt. Das Verwaltungsgericht legt bereits nicht hinreichend deutlich dar, ob seiner Auffassung nach auch von der Versammlung selbst eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht oder ob diese Gefahr ausschließlich aufgrund der zahlreichen Gegendemonstrationen und den hieraus zu erwartenden Störungen der Versammlung besteht. Auch die tatsächlichen Feststellungen im Hinblick auf einen etwaigen polizeilichen Notstand entsprechen nicht den Anforderungen an die intensivere Rechtmäßigkeitsprüfung, die bereits im Eilverfahren geboten ist. Die kurzfristige Änderung der polizeilichen Gefährdungsanalyse, die sich nicht ohne weiteres erschließt, hätte das Verwaltungsgericht veranlassen müssen, substantiierter zu prüfen und eine genauere Begründung zu verlangen. Es hätte auch dezidierterer Feststellungen bedurft, aufgrund welcher konkreter Gefahren für die öffentliche Sicherheit und aufgrund welcher konkreter vorrangig zu schützender sonstiger Veranstaltungen keine ausreichenden Polizeikräfte mehr zum Schutz der angemeldeten Versammlung und der Rechtsgüter Dritter zur Verfügung gestanden hätten.
OVG hätte sorgfältigere Folgenabwägung vornehmen müssen
Das Oberverwaltungsgericht hat zwar deutliche Bedenken gegen das Vorliegen eines polizeilichen Notstandes und gegen die kurzfristige Änderung der polizeilichen Gefährdungsanalyse geäußert. Auch erscheint es nachvollziehbar, dass dem Oberverwaltungsgericht die hier grundsätzlich gebotene Rechtmäßigkeitskontrolle der behördlichen Auflage in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht mehr möglich war. Allerdings hätte es dem Oberverwaltungsgericht in dieser Konstellation, um der Freiheitsvermutung zugunsten der
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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 25.01.2013
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online
- Versammlungsrecht (hier: NPD Kundgebung) kann während Mittagsgebet im Dom eingeschränkt werden
(Verwaltungsgericht Braunschweig, Beschluss vom 04.01.2013
[Aktenzeichen: 5 B 8/13]) - Zeitliche und räumliche Begrenzung der NPD-Versammlung auf Braunschweiger Burgplatz wegen Mittagsgebet im angrenzenden Dom zulässig
(Verwaltungsgericht Braunschweig, Beschluss vom 08.08.2012
[Aktenzeichen: 5 B 164/12])
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Dokument-Nr. 15106
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