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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26.07.2016
- 1 BvL 8/15 -
BVerfG zur Beschränkung ärztlicher Zwangsbehandlung bei untergebrachten Betreuten
Beschränkung der ärztlichen Zwangsbehandlung mit staatlicher Schutzpflicht nicht vereinbar
Es verstößt gegen die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dass hilfsbedürftige Menschen, die stationär in einer nicht geschlossenen Einrichtung behandelt werden, sich aber nicht mehr aus eigener Kraft fortbewegen können, nach geltender Rechtslage nicht notfalls auch gegen ihren natürlichen Willen ärztlich behandelt werden dürfen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Der Gesetzgeber hat die festgestellte Schutzlücke unverzüglich zu schließen. Mit Rücksicht darauf, dass die geltende Rechtslage auch bei lebensbedrohenden Gesundheitsschäden die Möglichkeit einer Behandlung gänzlich versagt, hat der Senat für stationär behandelte Betreute, die sich einer ärztlichen Zwangsbehandlung räumlich nicht entziehen können, die vorübergehende entsprechende Anwendung des § 1906 Abs. 3 BGB bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung angeordnet.
Im vorliegenden Fall litte die zwischenzeitlich verstorbene Betroffene des Ausgangsverfahrens unter einer schizoaffektiven Psychose. Sie stand deswegen seit Ende April 2014 unter
Beantragung ärztlicher Zwangsmaßnahmen entgegen den Willen der Patientin
Geistig war sie in der Lage, ihren natürlichen Willen auszudrücken. Auf richterliche Befragung äußerte sie wiederholt, sie wolle sich nicht wegen der Krebserkrankung behandeln lassen. Daraufhin beantragte die Betreuerin, die Unterbringungsgenehmigung für die Betroffene zu verlängern und
Zulässigkeit der Vorlage
Wesentliche Erwägungen des Senats:
1. Die Vorlage ist zulässig.
a) Das Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG dient der Kontrolle konkreter gesetzgeberischer Entscheidungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Schlichtes Unterlassen des Gesetzgebers kann nicht Gegenstand einer konkreten Normenkontrolle sein. Diese Grundsätze stehen allerdings nicht der Vorlage einer bestimmten Norm mit der Begründung entgegen, dass die vom vorlegenden Gericht im Zusammenhang mit der beanstandeten Norm vermisste Ausgestaltung durch eine konkrete verfassungsrechtliche
Klärungsbedürfnis auch nach Versterben der Betroffenen
b) Die Vorlage ist nicht dadurch unzulässig geworden, dass die Betroffene des Ausgangsverfahrens während des Vorlageverfahrens verstorben ist. Die auf Rechtsklärung und Befriedung ausgerichtete Funktion der Normenkontrolle kann es rechtfertigen, ausnahmsweise nach einem Ereignis, das regelmäßig zu dessen Erledigung führt, die vorgelegte Frage gleichwohl zu beantworten, wenn ein hinreichend gewichtiges, grundsätzliches Klärungsbedürfnis fortbesteht. Unter welchen Voraussetzungen das Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses zu bejahen ist, hängt dabei letztlich von den Umständen des Einzelfalls ab.
Verstoß gegen staatliche Schutzpflicht
2. Es verstößt gegen die staatliche
Schutzpflichtverletzung nur bei fehlenden, unzureichenden oder nicht geeigneten Schutzvorkehrungen feststellbar
a) Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gewährt nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Es stellt zugleich eine objektive Wertentscheidung der Verfassung dar, die staatliche Schutzpflichten begründet. Die Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts ist Sache des Gesetzgebers, dem grundsätzlich auch dann ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt, wenn er dem Grunde nach verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen. Das Bundesverfassungsgericht kann die Verletzung einer solchen
Aus allgemeiner Schutzpflicht kann konkrete Schutzpflicht entstehen
Bei Betreuten, die auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, verdichtet sich die allgemeine
Überwiegen der staatlichen Stutzpflicht gegenüber Hilflosen im Verhältnis zum Selbstbestimmungsrecht
b) Ein medizinisches Tätigwerden gegen den natürlichen Willen der Betreuten kollidiert mit deren
Vorliegen von materiellen Voraussetzungen bei einer Zwangsbehandlung
c) Bei der Umsetzung dieser
Zwangsbehandlung im Einklang mit Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR
d) Die Pflicht des Staates, den eines freien Willens nicht fähigen Betreuten in hilfloser Lage Schutz zu gewähren und sie unter den genannten Voraussetzungen notfalls einer medizinischen
Ärztliche Zwangsbehandlung laut Betreuungsrecht des BGB nur für geschlossen untergebrachte Betreute
3. Das Betreuungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs sieht eine ärztliche
Rechtslage für Betreute genügt nicht verfassungsrechtlichen Anforderungen
In stationärer Behandlung befindliche Betreute, die faktisch nicht in der Lage sind, sich räumlich zu entfernen, können nicht nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB freiheitsentziehend untergebracht und deshalb auch nicht nach § 1906 Abs. 3 BGB zwangsbehandelt werden. Damit wird solchen Betreuten, selbst wenn in ihrer Person sämtliche materielle Voraussetzungen einer verfassungsgebotenen
Fragen im Zusammenhang mit Art. 3 GG bleiben offen
4. Da die Gesetzeslage schon gegen die staatliche
Schutzlücke für Betreute unverzüglich vom Gesetzgeber zu schließen
5. Da kein Verstoß des vorgelegten § 1906 Abs. 3 BGB in seinem derzeitigen Regelungsgehalt gegen das Grundgesetz festgestellt wird, sondern die Nichterfüllung einer konkreten
Mit Rücksicht darauf, dass die geltende Rechtslage auch bei drohenden gravierenden oder gar lebensbedrohenden Gesundheitsschäden dieser Personengruppe die Möglichkeit einer Behandlung gänzlich versagt, ist die vorübergehende entsprechende Anwendung des § 1906 Abs. 3 BGB bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung anzuordnen.
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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 26.08.2016
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online
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