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Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 19.03.2019
- C-1763/17, C-297/17, C-318/17, C319/17 und C-438/17 -
Überstellung von Asylbewerbern in zuständigen Mitgliedsstaat nur bei extrem drohender Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unzulässig
Mängel im Sozialsystem des betreffenden Mitgliedstaats stellen nicht zwingend Risiko für erniedrigende Behandlung dar
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass ein Asylbewerber in den Mitgliedstaat überstellt werden darf, der normalerweise für die Bearbeitung seines Antrags zuständig ist oder ihm bereits subsidiären Schutz gewährt hat. Es sei denn, er würde dort aufgrund der voraussichtlichen Lebensumstände der Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in eine Lage extremer materieller Not versetzt, die gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstößt. Mängel im Sozialsystem des betreffenden Mitgliedstaats erlauben für sich allein genommen nicht den Schluss, dass das Risiko einer solchen Behandlung besteht.
Die Rechtssache Jawo betrifft hauptsächlich die Frage, ob die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) es verbietet, dass eine internationalen Schutz beantragende Person gemäß der Dublin-III-Verordnung* in den Mitgliedstaat überstellt wird, der normalerweise für die Bearbeitung ihres Antrags zuständig ist, wenn sie dort aufgrund der voraussichtlichen Lebensumstände, die sie (im Fall der Gewährung internationalen Schutzes) als schutzberechtigte Person erwarten würden, einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.
Überstellungsversuch scheitert
Herr Abubacarr Jawo stammt aus Gambia und stellte in Italien, das er auf dem Seeweg erreicht hatte, einen ersten Asylantrag. Nach seiner Weiterreise stellte er in Deutschland einen weiteren Asylantrag. Die deutschen Behörden lehnten diesen Antrag als unzulässig ab und ordneten die Abschiebung von Herrn Jawo nach Italien an. Der im Juni 2015 unternommene Versuch, Herrn Jawo nach Italien zu überstellen, scheiterte jedoch, da er nicht in seinem Wohnbereich seiner Gemeinschaftsunterkunft anwesend war. Herr Jawo erklärte bei seiner Rückkehr, dass er einen Freund in einer anderen deutschen Stadt besucht habe und ihn niemand darauf hingewiesen habe, dass er seine Abwesenheit hätte melden müssen.
Asylbewerber hält Überstellung wegen systemischer Schwachstellen in Italien für unzulässig
Vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg machte Herr Jawo geltend, dass Deutschland der zuständige Mitgliedstaat geworden sei, weil die in der
VGH erbittet Auslegung des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung
Der Verwaltungsgerichtshof ersuchte den Gerichtshof um Auslegung der
In Deutschland erneut gestellte Asylanträge von staatenlosen Palästinensern mit subsidiärem Schutz in Bulgarien abgelehnt
Die Rechtssachen Ibrahim u.a. betrafen die in der "Verfahrensrichtlinie"** vorgesehene Möglichkeit, Asylanträge als unzulässig abzulehnen, weil zuvor in einem anderen Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt wurde. Staatenlosen Palästinensern, die ihren Wohnsitz in Syrien hatten, wurde in Bulgarien subsidiärer Schutz gewährt, und einem russischen Staatsangehörigen, der nach eigenen Angaben tschetschenischer Volkszugehörigkeit ist, wurde in Polen derselbe Schutz gewährt. Da die neuen Asylanträge, die sie später in Deutschland gestellt hatten, abgelehnt wurden, hatten sie bei deutschen Gerichten Klage erhoben.
BVerwG erbittet Vorabentscheidung des EuGH
In den Rechtssachen bezüglich der staatenlosen Palästinenser wollte das Bundesverwaltungsgericht insbesondere wissen, ob die Befugnis zur Ablehnung eines Antrags als unzulässig entfalle, wenn die Lebensbedingungen der Personen, denen in einem Mitgliedstaat subsidiärer Schutz zuerkannt worden sei, als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung anzusehen seien, oder wenn diese Schutzberechtigten in dem Mitgliedstaat keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhielten, ohne insofern jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden.
EuGH: Grundsätzlich muss Vermutung des Schutzes der Menschenrechte und Grundfreiheiten gelten
Mit seinen Urteilen verwies der Gerichtshof darauf, dass im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten beruhe, die Vermutung gelten müsse, dass die von einem Mitgliedstaat vorgenommene Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, und der Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt worden ist, in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten stehe.
Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dennoch nicht ausgeschlossen
Allerdings könne nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stoße, so dass eine ernsthafte Gefahr bestehe, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten und insbesondere dem absoluten Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unvereinbar sei***.
Nationale Gerichte müssen bei Angaben zu Risiken mögliche unzureichende Verhältnisse prüfen
Daher ist das Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung oder gegen eine Entscheidung befasst ist, mit der ein neuer Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt wurde, zu der Würdigung verpflichtet, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen, sofern es über Angaben verfügt, die der Antragsteller vorgelegt hat, um das Vorliegen des Risikos einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in dem anderen Mitgliedstaat nachzuweisen.
Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung setzt besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit voraus
Solche Schwachstellen verstoßen aber nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese Schwelle wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
Große Armut oder starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse nicht mit erniedrigender Behandlung gleichzusetzen
Eine große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse erreichen diese Schwelle nicht, wenn sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren diese Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.
Bessere Lebensverhältnisse in weiterem Mitgliedsstaat führen nicht zur Annahme einer ansonsten eintretenden Gefahr extremer materieller Not
Des Weiteren könne der Umstand, dass
Jedenfalls könne der bloße Umstand, dass in dem Mitgliedstaat, in dem der neue Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als in dem Mitgliedstaat, der normalerweise für die Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist oder bereits subsidiären Schutz gewährt hat, nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer
Ablehnung des Asylantrags bei bestehendem subsidiärem Schutz möglich
Der Gerichtshof stellte fest, dass das Unionsrecht es nicht verbiete, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt wird oder dass ein Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig abgelehnt wird, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz gewährt worden ist, es sei denn, es sei erwiesen, dass der Antragsteller sich in dem anderen Mitgliedstaat unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände.
Ablehnung des Asylantrags bei bestehendem subsidiärem Schutz trotz systematischer Verweigerung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft möglich
In den Rechtssachen Ibrahim u.a. führt der Gerichtshof ferner aus, dass die Tatsache, dass der Mitgliedstaat, der einer internationalen Schutz beantragenden Person subsidiären Schutz gewährt hat, systematisch und ohne echte Prüfung die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verweigert, die anderen Mitgliedstaaten nicht daran hindert, einen neuen Antrag, den der Betroffene bei ihnen gestellt hat, als unzulässig ablehnen. In einem solchen Fall hat der subsidiären Schutz gewährende Mitgliedstaat das Verfahren zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wieder aufzunehmen. Es darf nämlich nur dann, wenn nach einer individuellen Prüfung festgestellt wird, dass eine internationalen Schutz beantragende Person nicht die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt, ihr gegebenenfalls der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt werden.
Asylbewerber ist bei fehlender Information an zuständige nationale Behörden über Abwesenheit als "flüchtig" einzustufen
In der Rechtssache Jawo stellte der Gerichtshof auch fest, dass ein Antragsteller "flüchtig" sei, wenn er sich den für die Durchführung seiner
Verlängerung der Überstellungsfrist möglich
Des Weiteren könne im Rahmen eines Verfahrens gegen eine gemäß der
Erläuterungen
* - Verordnung (EU) Nr.604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaatgestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31).
** - Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).
*** - Vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 21. Dezember 2011,N. S .u.a. (C-411/10 und C-493/10)
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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 19.03.2019
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online (pm)
- Dublin-III-Verordnung: Keine Ausnahmen im EU-Asylrecht
(Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 26.07.2017
[Aktenzeichen: C-490/16 und C-646/16]) - Systemische Mängel im Asylverfahren: Vorerst keine Abschiebung von Flüchtlingen nach Ungarn
(Verwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 15.01.2015
[Aktenzeichen: VG 23 L 899.14])
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Dokument-Nr. 27193
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